Wächter
seit dem Moment, in dem Myra seine Bekanntschaft gemacht hatte. Er hatte seine eigene Agenda, auf der dieser Abstecher nach L5 nur das I-Tüpfelchen war. Der scharfsinnige und zielstrebige Mann machte einen zufriedenen Eindruck, auch wenn er sich etwas langweilte, weil niemand Poker mit ihm spielte.
Myra hatte die Erlaubnis, Kontakt mit Charlie oder sogar mit Eugene herzustellen; vorausgesetzt, sie plauderte keine vertraulichen Dinge aus. Aber ihr Kind und Exmann waren nicht einmal durch KI-Suchroutinen aufzufinden, die das ganze Sonnensystem erfassten. Verbargen sie sich vor ihr? Sie setzte die Suche beunruhigt fort und wurde durch die negativen Ergebnisse zunehmend deprimiert.
Sie waren eine stille und unsoziale Mannschaft.
Nachdem sie sich aber mit diesen Umständen arrangiert hatte, war Myra doch froh, wieder von Licht beschienen zu werden.
Sie hatte sich an das Leben am Marspol mit seiner endlosen Nacht und der undurchdringlichen grauen Wolkendecke gewöhnt. Doch nun aalte sie sich geradezu im hellen, ungefilterten Sonnenlicht, das das Schiff durchströmte. Sie gehörte der Generation an, die den Sonnensturm miterlebt hatte und der Sonne seitdem ein gewisses Misstrauen entgegenbrachte. Und nun hatte sie das sonderbare Gefühl, als ob die Sonne sie wieder willkommen hieß. Kein Wunder, dass die Hälfte der Spacer zu Sonnenanbetern mutierte.
Also rief sie Charlie an, trieb Sport, las Bücher, schaute sich virtuelle Dramen an und badete dabei im Sonnenlicht, das sie zur Erdumlaufbahn blies.
Bevor die Zeitverzögerung gar zu lang wurde, sprach Myra noch einmal mit Ellie auf dem Mars.
»Ellie, Sie sind doch Physikerin. Bitte machen Sie mir etwas begreiflich. Was ist Mir? Wie kann ein anderes Universum überhaupt existieren? Wo ist meine Mutter? «
»Wünschen Sie die kurze Antwort oder die lange?«
»Versuchen Sie es mit beiden.«
»Kurze Antwort - ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Lange Antwort - unsere Physik ist noch nicht weit genug fortgeschritten, um uns mehr als einen flüchtigen Einblick zu gewähren - vielleicht Analogien der tieferen Wahrheiten, über die die Erstgeborenen verfügen müssen. Was wissen Sie über die Quantengravitation?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer. Versuchen Sie es mit einer Analogie.«
»In Ordnung. Sehen Sie - nehmen wir an, wir würden Ihre Mutter in ein großes schwarzes Loch werfen. Was geschieht mit ihr?«
Myra dachte nach. »Sie wäre für immer verloren.«
»Gut. Aber es gibt diesbezüglich zwei Probleme. Einmal sagen Sie, Ihre Mutter - oder, was wichtiger ist, die Informationen, die Ihre Mutter definieren - sei für das Universum verloren …« Wichtiger. Das war typisch Ellie. »Aber das verletzt ein Grundprinzip der Quantenmechanik, das besagt, dass Informationen immer erhalten bleiben müssen. Ansonsten ginge jeder Anschein der Kontinuität von der Vergangenheit in die Zukunft verloren. Genau gesagt, Schrödingers Wellengleichung würde ihre Gültigkeit verlieren.«
»Aha. Und wie lautet nun die Auflösung?«
»Schwarze Löcher verpuffen. Quanteneffekte am Ereignishorizont veranlassen ein Loch, einen Partikelschauer abzustrahlen, wodurch seine Masseenergie schrittweise reduziert wird. Und die Informationen, die einmal Bisesa definierten, sickern auf diese Weise durch. Das Universum ist gerettet - hurra! Sie verstehen, dass ich mich sehr umgangssprachlich ausdrücke. Falls Sie die Gelegenheit haben, Thales nach dem holografischen Prinzip zu befragen.«
»Sie sagten, es gebe zwei Probleme«, sagte Myra hastig.
»Ja. Wir haben die Informationen von Bisesa also zurückbekommen. Aber was geschieht mit Bisesa von ihrer Warte aus? Der Ereignishorizont ist keine Mauer im Raum. Also werden aus ihrer Perspektive die Informationen, die sie definieren, nicht am Ereignishorizont eingefangen und sickern durch, sondern sie werden zusammen mit ihr ins Innere des Lochs transportiert.«
»Gut«, sagte Myra langsam. »Dann gibt es also zwei Kopien der Mutter-Information: eine im Loch und eine, die nach draußen verschwindet.«
»Nein. Das geht nicht. Ein anderes Kernprinzip: das Cloning-Theorem. Quanten-Informationen können nicht kopiert werden.«
Myra vermochte kaum noch zu folgen. »Und wie lautet hierzu die Auflösung?«
»Nicht-Örtlichkeit. Im täglichen Leben ist Örtlichkeit ein Axiom. Ich bin hier, Sie sind dort - wir können nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Aber die Auflösung des Schwarze-Loch-Rätsels ist, dass ein Informations-Bit
Weitere Kostenlose Bücher