Wächter
angebunden.
Sie bekamen Zimmer im kleinen Hotel Michigan. Emeline und Bisesa mussten sich eins teilen. In der Vorhalle hing eine eingerahmte Zeitungstitelseite. Es war eine Abendausgabe der
Chicago Tribune mit Datum vom 21. Juli 1894 mit folgender Schlagzeile: WELT VON CHICAGO ABGESCHNITTEN.
Sie ließen das Gepäck auf dem Zimmer. Emeline kaufte ihnen ein Roastbeef-Sandwich zum Mittagessen. Und am Nachmittag unternahmen sie einen Spaziergang durch die neue Stadt.
New Chicago bestand im Wesentlichen aus staubigen Straßen, die von Holzhäusern gesäumt wurden; nur eine größere Kirche war in Stein erbaut worden. Aber die Stadt war groß. Bisesa sah, dass sie bereits ein paar tausend Einwohner haben musste.
Der Rathausturm wurde von einer repräsentativen Uhr geziert. Emeline sagte, sie sei auf »Chicagoer Standard-Eisenbahnzeit« eingestellt. Ein Standard, an dem die Chicagoer trotz der Umwälzungen durch die Diskontinuität festgehalten hatten - auch wenn die Uhr, dem Stand der Sonne nach zu urteilen, um etwa drei Stunden nachging. Und es gab weitere kulturelle Indizien. Ein Zettel mit einem Veranstaltungshinweis war an die Rathaustür gepinnt:
EINE WELT OHNE PAPST?
GIBT ES NOCH EINE ZUKUNFT FÜR CHRISTEN?
MITTWOCH, ACHT UHR.
KEIN SCHNAPS. KEINE WAFFEN.
Und ein kleines Haus war als EDISON-DENKMAL VON CHICAGO deklariert. Bisesa beugte sich vor, um die Einzelheiten auf dem Plakat zu lesen:
Das SCHICKSAL von
CHICAGO
In der NACHT
Da die GANZE WELT ERSTARRTE
JULI 1894
Eine Produktion für den Edison-Dixon Kinetoskopen
US-Patent beantragt
EIN WUNDER
ZEHN CENT
Bisesa warf einen Blick auf Emeline. »Edison?«
»Er war in jener Nacht zufällig in der Stadt. Er hatte sich ein oder zwei Jahre zuvor auf der Weltausstellung präsentiert. Er ist nun ein alter, kranker Mann, aber noch am Leben - zumindest war er es, als ich nach Babylon aufbrach.«
Sie setzten den Spaziergang auf den staubigen Straßen fort.
Sie gelangten zu einem kleinen Park, der von einer mächtigen Statue auf einem Betonpodest überschattet wurde. Eine Art kleiner Zwilling der Freiheitsstatue, der trotzdem noch eine Höhe von dreißig Metern oder mehr hatte. Die vergoldete Oberfläche war aber schon fleckig und narbig.
»Big Mary«, sagte Emeline, wobei ein gewisser Stolz mitschwang. »Oder die Statue der Republik. Das Herzstück der Weltausstellung, der Kolumbus-Ausstellung von 1893, die wir ein Jahr vor der Erstarrung veranstaltet hatten. Als wir diesen Ort für das Neue Chicago auserkoren, war Mary als eines der ersten städtischen Objekte hierher verfrachtet worden, obwohl wir kaum die erforderlichen Kapazitäten hatten.«
»Das ist großartig«, sagte Abdikadir in aufrichtiger Bewunderung. »Sogar Alexander wäre beeindruckt.«
»Es ist zumindest ein Anfang«, sagte Emeline mit einer eigenartigen Genugtuung. »Man muss seinen Standpunkt deutlich machen, wissen Sie. Wir sind hier, und hier werden wir auch bleiben.«
Sie hatten auch gar keine andere Wahl gehabt, als sich von Alt-Chicago zu verabschieden.
Die Chicagoer hatten Wochen und Monate gebraucht, um das zu begreifen, was Bisesa den in der Umlaufbahn gemachten Sojus-Fotos auf den ersten Blick entnommen hatte. Die Krise war nicht nur eine lokale Klimakatastrophe, für die man sie zunächst gehalten hatte; etwas viel Außergewöhnlicheres war geschehen. Chicago war eine Insel der menschlichen Wärme in einem eingefrorenen, leblosen Kontinent: ein im Eis eingeschlossenes Relikt des 19. Jahrhunderts. Und so
weit es die Eiskappe betraf, war Chicago eine Wunde, die geschlossen werden musste.
Emeline sagte, dass die ersten Emigranten das ursprüngliche Chicago im fünften Jahr nach der Erstarrung Richtung Süden verlassen hätten. Das neue Chicago war das Produkt von dreißig Jahren harter Arbeit durch Amerikaner, die sich viele Jahre ganz allein in einer umgekrempelten Welt gewähnt hatten.
Doch selbst im Herzen der neuen Stadt wehte ein ständiger kalter Wind aus dem Norden.
Sie erreichten das Farmland am Stadtrand. So weit das Auge reichte, waren Schafe und Kühe über eine grünbraune Prärie verstreut, die von kleinen, schäbigen Bauernhäusern durchsetzt war.
Emeline führte sie zu einer Art Freilichtfabrik, die sie die Union Stock Yards nannte. Es stank hier nach Blut und Schmutz und fauligem Fleisch, und ein eigenartiger säuerlicher Geruch erwies sich als der Gestank von verbranntem Haar. »Der Kern der Anlage stammt noch aus dem alten Chicago; er wurde abgerissen und hier wieder
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