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Wächter

Wächter

Titel: Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baxter Clarke
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Gaslaternen große Feuer, die von Trupps von Männern emsig mit Brennholz beschickt wurden. Die Männer waren dick angezogen, und ihre Atemwolken waberten um die Köpfe wie Helme. Der rußige Rauch der Feuer hing wie ein schwarzer Deckel über der Stadt, und die Fassaden der Gebäude waren ebenfalls rußgeschwärzt. Die Leute hatten sich so dick in Pelze gewickelt, dass sie fast wie Kugeln von einer Insel der Wärme, die durch ein Feuer gebildet wurde, zur nächsten eilten.
    Es herrschte schwacher Verkehr auf den Straßen: Es waren Pferdekarren und sogar ein paar Radfahrer unterwegs - aber es gab kein einziges Auto in dieser Version des Chicago der 1920er, erinnerte Bisesa sich. Überall lagen gefrorene Pferde äpfel auf dem rissigen Straßenbelag.
    Es war eine außergewöhnliche Szenerie - die kalte Ruine einer Stadt. Aber es funktionierte irgendwie. Es gab eine Kirche mit offenen Türen und einem mit Kerzen beleuchteten Innenraum, ein paar Geschäften mit »Geöffnet«-Schildern - und sogar ein Kind, das Zeitungen verkaufte: bessere Flugblätter, auf denen der Schriftzug Chicago Tribune prangte.
    Unterwegs erhaschte Bisesa einen Blick auf den Michigan-See im Osten. Er erstreckte sich als eine schneeweiße, spiegelglatte Eisfläche in alle Richtungen. Nur am Ufer war das Eis durchbrochen und wurde von schmalen Kanälen aus schwarzem Wasser durchzogen, und in der Nähe der Mündung des Chicago River waren Männer damit zugange, die Trinkwasserrohre
eisfrei zu halten; eine Notwendigkeit, die sich unmittelbar nach der Erstarrung ergeben hatte.
    Und es waren Leute auf dem See. Sie angelten an Löchern im Eis und hatten Feuer angezündet, deren Rauch in dünnen Fäden in die Luft stieg. Irgendwie vermittelten die Leute da draußen den Anschein, als ob sie überhaupt nichts mit dieser riesigen Ruine einer Stadt zu tun hätten.
    »Die Stadt ist längst nicht mehr das, was sie einmal war«, sagte Emeline schnaufend. »Wir haben viele Vorstädte aufgeben müssen. Die Stadt wurde zu einem Gebiet mit der Loop als Zentrum eingedampft - vielleicht eine halbe Meile in jede Richtung. Die Bevölkerung ist auch stark geschrumpft: durch die Hungersnot, die Seuchen und die Abgänger und vor allem durch den Umzug nach New Chicago. Aber wir nutzen die Vorstädte noch als Minen; so könnte man das wohl ausdrücken. Wir senden Trupps aus, um alles Brauchbare einzusammeln: Kleidung, Möbel und andere Dinge sowie Holz für die Feuer und Brennöfen. Natürlich haben wir seit der Erstarrung keine Kohle-oder Öllieferungen mehr erhalten.«
    Es stellte sich heraus, dass Emeline mit diesen logistischen Aufgaben betraut war. Sie arbeitete in einer kleinen, dem Büro des Bürgermeisters beigeordneten Abteilung und war dafür zuständig, neue Holzquellen zu erschließen und die Transportwege zu organisieren, auf denen das Holz in die noch bewohnbaren Gebiete der Stadt gelangte.
    »Eine Stadt wie diese vermag auf Dauer nicht unter solchen Bedingungen zu überleben«, sagte Abdi. »Sie muss sich selbst verzehren, wie ein verhungernder Körper schließlich seine eigenen Organe verzehrt.«
    »Wir tun, was wir tun müssen«, sagte Emeline scharf.
    Das Telefon murmelte: »Ruddy hat Chicago einmal besucht - auf der Erde nach dem Zeitpunkt der Diskontinuität . Er nannte es eine ›richtige Stadt‹. Aber er sagte auch, dass er sie nie wieder sehen wollte.«
    »Psst«, sagte Bisesa.

    Emelines Wohnung war ein ehemaliges Büro im ersten Stock eines Wolkenkratzers namens Montauk. Das Gebäude machte einen labilen und schäbigen Eindruck auf Bisesa, aber sie vermutete, dass es in den 1890er-Jahren ein Weltwunder gewesen war.
    Die Zimmer der Wohnung glichen Nestern, und Wände, Fußböden und Decken waren dick mit Decken und Pelzen behängt und ausgelegt. Improvisierte Kamine waren in die Wände gebrochen worden, damit der Rauch abziehen konnte; aber die Räumlichkeiten waren trotzdem rußgeschwärzt. Und doch sah die Wohnung gemütlich aus. Im Wohnzimmer und im Salon standen Lehnstühle und kleine Tische - zierliche Möbelstücke, die zwar abgenutzt waren, aber liebevoll gepflegt wurden.
    Emeline servierte ihnen Tee: es war eine indische Sorte aus einem seit dreißig Jahren sorgsam gehüteten Vorrat. Auf diese Art und Weise bewahrten diese Chicagoer ihre Identität, vermutete Bisesa.
    Bald tauchte auch einer von Emelines zwei Söhnen auf. Mit ungefähr zwanzig war er der um ein Jahr jüngere und war nach seinem Vater Joshua benannt worden. Er atmete schwer,

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