Wächter
den Arm ihrer Mutter und führte sie zur gläsernen Einfassung des Daches.
Von dort vermochte Bella das Meer in östlicher Richtung zu überschauen, wo die tief stehende Sonne wie eine Lampe hing, und die Küste, die sich kilometerweit nach Norden und Süden erstreckte. Canaveral war überfüllt. Die Autos stauten sich an der Küste und parkten bis hinauf zur Beach Road im Norden, nach Merritt Island im Süden und auf dem Kap selbst, wo sie die alten Industrieanlagen des verlassenen Luftwaffenstützpunkts belegten. Überall flatterten Fahnen in der starken Brise.
Und draußen auf dem Meer sah sie die graue kompakte Masse einer wieder verwendeten Bohrinsel. Von ihr stieg ein doppelter Strang empor - schnurgerade und nur zu sehen, wo er das Licht reflektierte.
»Sie sind zum Einschalten gekommen«, sagte Edna. »Du warst immer schon ein Show-Talent, Mama. Vielleicht müssen Politiker so sein. Und die heutige Wiedereröffnung von Amerikas Weltraumaufzug ist eine gute PR-Aktion. Ich glaube, die Leute sind in Partystimmung.«
»Ach, das ist mehr als ein bloßer Weltraumaufzug. Du wirst schon sehen.«
»Du hast doch nicht wieder was ausgeheckt, Mama?«
»Ich komme gerade von einer Konferenz mit Bob Paxton und ein paar anderen Leuten. Es ging um neue Konzepte für
die Raumverteidigung. Große Konzepte. Terraformungs-Programme zum Beispiel.«
»Du machst Witze.«
»Nein. Ich denke nur in größeren Zusammenhängen. Das bringt es wohl mit sich, wenn man sich am Schild die Zähne ausgebissen hat. Und ich muss noch einmal mit Myra Dutt sprechen.« Sie schaute in den Himmel. »Wir müssen etwas wegen Mir unternehmen - diesem Anderort, zu dem es Myras Mutter verschlagen hat. Es leben auch Menschen dort. Wenn wir mit ihnen sprechen können, wie das laut Alexej Carel auf dem Mars möglich gewesen sein soll, finden wir vielleicht einen Weg, sie nach Hause zu holen …«
Es regte sich etwas. Bella war sich der Annäherung von Menschen bewusst, der Hunderte von Augen, die auf sie gerichtet waren, und dieser glitzernde Kamera-Roboter wuselte ihr wie ein Hund vor den Füßen herum. Sogar diese Mönche am Alligator-Teich starrten sie an und grinsten bis über beide Ohren.
Sie schaute auf die Uhr. »Es ist wohl so weit.«
»Mama, du wirst ihnen etwas sagen müssen.«
»Ich weiß. Nur noch eine Minute.« Sie schaute aufs Meer zur leuchtenden senkrechten Spur des Weltraumaufzugs. »Edna, ruf die Kinder her, damit sie sich das anschauen können.«
Die Kinder kamen mit den Geschenken zu ihnen gelaufen, gefolgt von Cassie und John Metternes, der Thea auf den Schultern sitzen hatte.
Eine Stichflamme schoss aus der Bohrinsel, ein rosa Funken, der sich krümmte und eine Rauchfahne nachzog. Dann gab es eine Bewegung entlang der Trasse des Weltraumaufzugs - leuchtende Tröpfchen, die an einem der beiden Stränge emporstiegen. Vereinzelter Beifall kam auf und hallte bald von den über Canaveral verstreuten Massen wider.
»Es funktioniert«, sagte Bella atemlos.
»Aber was befördert er?«, murmelte Edna. »Vergrößerung … Verdammt, ich vergesse immer wieder, dass ich auf einem Au ßeneinsatz bin.«
»Wasser«, sagte Bella. »Säcke mit Meerwasser. Das ist eine Eimerkette, Liebes. Die Behälter werden bis zur Spitze des Turms transportiert und abgeworfen.«
»Wohin abgeworfen?«
»Zum Mond - für den Anfang. Später zur Venus.«
Edna starrte auf den Weltraumaufzug. »Und woher bezieht er seine Energie? Ich sehe keine Laserinstallationen auf der Bohrinsel.«
»Es gibt auch keine. Es gibt keine Energiequelle - nur die Drehung der Erde. Edna, das ist eigentlich gar kein Weltraumaufzug. Es ist ein Saugheber.«
Ednas Augen leuchteten, als ob sie ein Wunder erlebt hätte.
Der Orbital-Saugheber war eine Weiterentwicklung des Weltraumaufzug-Konzeptes. Jenseits des Punktes der erdsynchronen Umlaufbahn wurde Masse durch die Zentripetalkräfte von der Erde weggeschleudert. Der Trick mit dem »Saugheber« bestand nun darin, eine Nutzlast wegzukatapultieren, aber zugleich weitere Massen von der Erdoberfläche »nachzuziehen«. Im Grunde wurde die Energie der Erddrehung auf einen entweichenden Strom von Nutzlast-Kapseln übertragen.
»Also braucht man gar keine externe Energiezufuhr mehr«, sagte Edna. »Ich habe dieses Konzept bereits an der USNGS studiert. Als Hauptproblem galt damals die Frage, wie das verdammte Ding gespeist werden solle - es hätte Tag und Nacht eine Lkw-Flotte im Einsatz sein müssen, um den Nutzlastfluss
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