Wächter
Flora und Fauna.
Zwei seltsam gekleidete, spindeldürre und hochgewachsene Männer in dunkelblauen Gewändern mit einer lodernden goldenen Sonne darauf starrten auf einen Baby-Alligator, als ob er die erstaunlichste Kreatur wäre, die sie je gesehen hatten - und vielleicht stimmte das sogar. Sie waren etwas wacklig
auf den Beinen und hatten die Gesichter dick mit Sonnenschutz eingecremt. Sie waren Mönche der neuen Kirche von Sol Invictus: Weltraum-Missionare auf der Erde.
Edna ging mit der Vorsicht eines Weltraumarbeiters, der sich erst wieder an die volle Gravitation gewöhnen musste. Sie zuckte leicht zusammen im hellen Licht, der Brise und im unkontrollierten Klima einer lebendigen Welt. Sie sah müde aus, sagte Bella sich mit einer mütterlichen Besorgtheit, älter als ihre vierundzwanzig Jahre.
»Du hast nicht gut geschlafen, nicht wahr, Liebes?«
»Mama, ich weiß, dass wir im Moment nicht darüber sprechen können. Aber ich habe gestern meine Vorladungen erhalten. Für deine Verhandlung und für meine.«
Bella seufzte. Sie hatte alles versucht, um Edna eine Verhandlung vor einem Tribunal zu ersparen. »Wir werden es überleben.«
»Du sollst nicht glauben, dass du mich schützen musst«, sagte Edna etwas steif. »Ich habe meine Pflicht erfüllt, Mama. Ich würde es wieder tun, wenn ich den Befehl bekäme. Wenn es so weit ist, werde ich vor Gericht die Wahrheit sagen.« Sie lächelte gezwungen. »Ach, zum Teufel mit dem ganzen Mist. Thea sehnt sich danach, dich zu sehen. Wir haben uns etwas von den Zelten und Bars entfernt ein Plätzchen gesucht …«
Edna hatte einen Abschnitt des VAB-Daches in der Nähe des Rands mit Beschlag belegt. Hier waren sie völlig ungestört, abgeschirmt durch eine hohe, nach innen gekrümmte Glaswand. Edna hatte Picknick-Decken und Campingtische und -stühle mitgebracht und ein paar Körbe geöffnet. Cassie Duflot war schon mit ihren zwei Kindern, Toby und Candida, erschienen. Sie spielten mit Thea, Ednas vier Jahre alter Tochter und Bellas Enkelin.
In dieser Ecke des VAB-Dachs war Weihnachten, wie Bella zu ihrer Überraschung feststellte. Die mit Spielzeug hantierenden Kinder stapften über Geschenkpapier und Zierbänder. Es gab sogar einen kleinen Baum in einem Topf. Ein älterer
Mann in einem Weihnachtsmannkostüm saß bei ihnen; er wirkte etwas linkisch, hatte aber ein breites Grinsen in seinem müden Gesicht.
Thea kam angelaufen. »Oma!«
»Thea.« Die Kleine umklammerte ihre Knie. Bella bückte sich und knuddelte ihre Enkeltochter. Die anderen Kinder liefen auch zu ihr; vielleicht erinnerten sie sich vage an die nette alte Dame, die mit einem Andenken zum Begräbnis ihres Vaters gekommen war. Aber die Kinder rissen sich bald wieder los und gingen zu ihren Geschenken zurück.
Der Weihnachtsmann schüttelte Bella die Hand. »John Metternes, Frau Vorsitzende«, sagte er. »Ich bin mit Ihrer Tochter auf der Liberator geflogen.«
»Ja, natürlich. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, John. Sie haben dort oben gute Arbeit geleistet.«
Er grunzte. »Wollen wir hoffen, dass der Richter das auch so sieht. Sehen Sie, ich möchte wirklich nicht aufdringlich erscheinen - ich sehe schließlich, dass hier ein Familientreffen stattfindet …«
»Ich habe ihm einen Landurlaub befohlen«, sagte Edna leicht säuerlich. »Dieser Verrückte würde noch auf der Liberator schlafen, wenn die Wartungsmannschaft ihm das erlauben würde.«
»Lassen Sie sich von ihr nicht kirre machen, John. Sie tun schon das Richtige. Aber - Weihnachten , Edna? Wir haben doch erst den 15. Dezember.«
»Das war eigentlich meine Idee.« Cassie Duflot kam auf Bella zu. »Es war nur so, wissen Sie - wir sind doch immer noch nicht sicher, was der heutige Tag bringen wird, nicht wahr?« Sie richtete den Blick in den Himmel, als ob sie nach der Q-Bombe Ausschau hielte. »Ich meine, nicht wirklich sicher. Und falls es doch schiefgeht, wirklich schiefgeht …«
»Dann sollten die Kinder wenigstens ihr Weihnachten gehabt haben.«
»Finden Sie das verrückt?«
»Nein.« Bella lächelte. »Ich verstehe das voll und ganz, Cassie.«
»Es ist jedenfalls ein ganz besonderer Tag«, sagte Edna. »Und noch schlimmer, wenn die Welt heute nicht in die Luft fliegt, dann werden wir das Ganze in neun Tagen eben noch mal veranstalten.«
»Ihr Start ist ein richtiger Publikumsmagnet, Bella«, sagte Cassie.
»Sieht so aus …«
»Mama, du hast noch nicht einmal die Hälfte davon gesehen«, sagte Edna. Sie ergriff wieder
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