Wächter
Bisesa erkannte sie von den entfernten Sichtungen am Rand des Eisschelfs, als sie sich zuletzt auf Mir aufgehalten hatte. Nun waren sie hier am Hof. Sie waren überwiegend noch sehr jung
und gingen mit gesenktem Kopf und leerem Blick umher. In den groben Pratzen trugen sie zierliche Tabletts. Und sie waren mit den gleichen feinen purpurroten Gewändern wie die Höflinge bekleidet, als ob man sich einen Scherz mit ihnen erlauben wollte.
Bisesa hielt vor einem außergewöhnlichen Wandteppich inne. Er bedeckte eine ganze Wand und stellte eine Karte der Welt dar, nur dass die Himmelsrichtungen vertauscht waren. Ein großer Teil des südlichen Europas, des nördlichen Afrikas und Zentralasiens bis hinunter nach Indien war rot eingefärbt und wurde von einer goldenen Grenze markiert.
»Yeh-lu Ch’u-ts’ai«, sagte Kapitän Grove.
Er war Emelines Begleiter und trug seine britische Armee-Uniform, während sie mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse und einem langen Rock mit schwarzen Schuhen bekleidet war. Sie wirkten beide wie Repräsentanten des viktorianischen Zeitalters inmitten der Dekadenz an Alexanders Hof.
»Ich beneide Sie um Ihre Ausstattung«, sagte Bisesa zu Emeline; sie fühlte sich in ihrer babylonischen Kutte unwohl.
»Ich habe immer ein Dampfbügeleisen dabei«, sagte Emeline gouvernantenhaft.
»Wie war meine Aussprache?«, fragte Grove Bisesa.
»Das vermag ich nicht zu beurteilen«, gestand Bisesa. »Yeh-lu …?«
Grove schob den Schnurrbart beiseite und nippte am Wein. »Vielleicht sind Sie ihm auch nie begegnet. Er war der ranghöchste Berater von Dschingis Khan vor Alexanders Mongolenkrieg. Ein chinesischer Kriegsgefangener. Nach dem Krieg - Sie werden sich erinnern, dass Dschingis ermordet wurde -, war sein Stern im Sinken begriffen. Aber er kam hierher nach Babylon, um mit den Gelehrten von Alexander zu arbeiten. Das Ergebnis waren Karten wie diese.« Er deutete auf den großen Bildteppich. »Die Ausführung ist natürlich sehr aufwendig und verschnörkelt, aber ziemlich genau, soweit wir es sehen. Sie waren Alexander eine unschätzbare Hilfe bei der
Planung seiner Eroberungsfeldzüge - und bei der späteren Arrondierung seines Herrschaftsbereichs.
Alexanders Feldzüge waren bemerkenswert, Bisesa - eine Meisterleistung unter dem Gesichtspunkt der Logistik und der Menschenführung. Er hat eine ganze Flotte im großen Hafen hier in Babylon gebaut und musste den Euphrat dann auf ganzer Länge vertiefen, um den Fluss überhaupt schiffbar zu machen. Dann hat die Flotte Afrika umschifft und gelegentlich die Küstenregionen überfallen, um sich aus dem Land zu ernähren. Gleichzeitig sind seine Heere von Babylon nach Osten und Westen ausgeschwärmt, haben Schienenstränge und Heerstraßen angelegt und überall Städte gegründet. Allein die Vorbereitungen haben fünf Jahre gedauert, und die Feldzüge dann noch einmal zehn Jahre, bis er das gesamte Territorium von Spanien bis nach Indien erobert hatte. Natürlich war das Ganze sehr kräftezehrend für seine Leute …«
Emeline berührte Bisesas Arm. »Wo ist Ihr Telefon?«
Bisesa seufzte. »Es bestand darauf, zum Tempel zurückgebracht zu werden, damit es möglichst viel von Abdis astronomischen Beobachtungen herunterladen konnte. Es ist nämlich ziemlich neugierig.«
Emeline runzelte die Stirn. »Ich gestehe, dass ich mir Mühe geben muss, Ihren Worten zu folgen. Am seltsamsten ist jedoch die unübersehbare Zuneigung, die Sie diesem Telefon entgegenbringen. Das ist doch nur eine Maschine. Ein Ding!«
Kapitän Grove lächelte. »Ach, so ungewöhnlich ist das gar nicht. Viele meiner Männer haben sich schon in ihre Waffen verliebt.«
»Und in meiner Zeit«, sagte Bisesa, »sind viele unserer Maschinen empfindungsfähig - wie mein Telefon. Sie haben ein ebensolches Bewusstsein wie Sie und ich. Da ist es schwer, keine Empathie für sie aufzubringen.«
Eumenes näherte sich; er verbreitete eine Kälte, vor der die weibischen Höflinge auseinander stoben, obwohl er genauso geckenhaft ausstaffiert war wie sie. »Ihr sprecht von Astronomie.
Ich hoffe, die Astronomie, die wir hier betreiben, genügt Euren Anforderungen«, sagte er. »Die babylonische Priesterschaft hat eine lange Tradition der Himmelsbeobachtung, schon bevor wir hierher kamen. Und die von den Ingenieuren der Schule von Othic entworfenen Fernrohre sind so präzise gefertigt, wie es uns nur möglich war. Aber wer weiß schon, was man an einem Himmel zu lesen vermag, der vielleicht
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