Wächter
genauso viktorianisch steif, wie das 19. Jahrhundert es gewesen war.
»Er ist’s«, sagte Grove.
»Er hatte gar keine andere Wahl, als die Welt wieder zu erobern«, murmelte Eumenes. »Alexander hält sich für einen Gott - für den Sohn des Zeus, der von Ammon verkörpert wird. Deshalb trägt er auch die Gewänder und das Horn von Ammon. Aber er wurde als Mensch geboren und nur durch seine Eroberungen zur Gottheit. Nach der Diskontinuität war alles hinweggefegt, und was blieb Alexander dann noch? Das konnte er nicht hinnehmen. Also begann alles noch einmal von vorn; er musste es tun.«
»Aber es ist trotzdem nicht wie zuvor«, sagte Bisesa. »Sie sagen, dass es hier Dampfzüge gibt. Vielleicht ist das ein neuer Anfang für die Zivilisation. Ein vereinigtes Reich, unter Alexander
und seinen Nachfolgern, das durch die Technik vorangetrieben wird.«
Grove lächelte wehmütig. »Erinnern Sie sich, dass der arme alte Ruddy Kipling genau das Gleiche zu sagen pflegte?«
»Ich glaube freilich nicht, dass Alexander Eure ›modernen‹ Träume teilt«, sagte Eumenes. »Wieso sollte er auch? Wir sind mehr als Ihr, viel mehr; vielleicht wird unser Glaube den Euren überwältigen und die Wirklichkeit prägen.«
»Nach meinen Geschichtsbüchern«, sagte Emeline mit der Attitüde einer Oberlehrerin, »ist Alexander in der alten Welt in den Dreißigern gestorben. Es ist zwar unchristlich, das zu sagen. Aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er hier gestorben wäre, anstatt ewig zu leben.«
»Sein Sohn hat sicherlich so gedacht«, sagte Eumenes trocken. »Und deshalb - schaut!« Er zog Bisesa zurück.
Eine Rotte Soldaten stürmte vorbei, die langen sarissae gesenkt. In der Mitte des Raums gab es Gedränge und Tumult. Es ertönten Rufe, die sich schnell zu einem Geschrei steigerten.
Und Alexander war hingestürzt.
Alexander lag am Boden und stieß in seinem schweren mazedonischen Griechisch Rufe aus. Seine Höflinge und sogar die Wächter wichen vor ihm zurück, als ob sie Vorwürfe befürchteten. Ein hellroter Fleck breitete sich über seinen Bauch aus. Bisesa glaubte zunächst, dass es Wein war.
Doch dann sah sie den kleinen Neandertaler-Pagen über ihm stehen. Er hatte ein ausdrucksloses Gesicht und ein Messer in seiner großen Hand.
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Eumenes heftig. »Es ist der Jahrestag des Krieges mit dem Sohn - und Sie und Ihr Auge , Ihr habt die Leute noch zusätzlich aufgeputscht, Bisesa Dutt. Kapitän Grove, schafft sie schleunigst von hier weg und aus der Stadt hinaus. Sonst riskiert ihr, Opfer der Säuberung zu werden, die nun unweigerlich folgen wird.«
»Verstanden«, sagte Grove ruhig. »Kommen Sie, meine Damen.«
Als Grove sie wegbrachte, blickte Bisesa noch einmal zurück. Sie sah, wie der Neandertaler-Junge wieder das Messer hob und auf Alexander zuging. Er bewegte sich mechanisch, als ob er eine lästige Pflicht erfüllte. Alexander brüllte vor Wut und Angst, aber die Wachen griffen dennoch nicht ein. Schließlich war es Eumenes, der steife alte Eumenes, der durch die Menge stürmte und den kleinen Jungen niederstreckte.
Draußen war die Stadt hell erleuchtet; Rauch quoll aus brennenden Gebäuden, während die Kunde vom Attentat sich wie ein Lauffeuer ausbreitete.
{33}
FLUCHT
Im fahlen Licht der Morgendämmerung verließen Bisesa und die anderen die Stadt. Begleitet wurden sie von einer Abteilung von Eumenes’ Garde, die sie bis nach Gibraltar eskortieren sollte. Ein furchtsam dreinblickender Abdikadir hatte ebenfalls den Auftrag erhalten, mit Bisesa nach Amerika zu gehen.
So war Bisesa nur zwölf Stunden nach dem Sturz durch das Auge schon wieder unterwegs. Sie konnte nicht einmal den Raumanzug mitnehmen. Als »Requisiten« aus dem 21. Jahrhundert hatte sie nur das Handy und den Akku aus dem Anzug.
Zu ihrer Überraschung tröstete Emeline sie. »Warten Sie nur, bis wir nach Chicago kommen«, sagte sie. »Dann werden wir in der Michigan Avenue erst einmal shoppen.«
Shopping!
Schon die erste Etappe der Reise war erstaunlich.
Bisesa saß in einem offenen, von vier stämmigen Neandertalern gezogenen Karren, der von mazedonischen Soldaten flankiert wurde. Diese »Steinmänner« waren das Eigentum eines Herrn namens Ilicius Bloom, der sich als Chicagos Konsul in Babylon ausgab. Er war ein aalglatter Typ, dem Bisesa instinktiv misstraute.
Sie kamen zu einer Eisenbahnstation an einem Ort, Midden genannt, einer seltsamen Aufschüttung mit einer kleinen Stadt
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