Wächterin der Träume
Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?«
Sie nickte. »Mir fehlt meine Familie, Dawn. Ich bin nicht so kalt und herzlos, wie du denkst.«
Ich antwortete nicht. Das letzte Wort darüber war noch nicht gesprochen. Ich öffnete den Mund, doch mein Vater kam mir zuvor. »Es besteht kein Grund zur Sorge, Maggie. Ich habe ihn in seinen Träumen besucht. Er ist ungefährlich. Du wirst mich nicht verlassen müssen.«
Er ging zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. Wie ein großer Racheengel stand er da. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, ich hingegen schon – und seine Miene jagte mir einen Schauer über den Rücken. Falls es diesem Spezialisten gelang, meine Mutter zu wecken, konnte er einem leidtun. Wenn es um mich und meine Mutter ging, war mein Vater oft nachgiebig, aber er war ein mächtiger Gott, den man besser nicht erzürnte. Als seine Tochter war ich ebenfalls eine Göttin – oder besser gesagt eine Halbgöttin. Und auch ich ließ mich nicht gern ärgern. Dabei wusste ich gar nicht genau, wozu ich alles fähig war – nur, dass ich Dinge konnte, die nicht einmal Morpheus zustande brachte.
Kein Wunder, dass der Rat der Nachtmahre beunruhigt war.
Ich war es auch.
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Kapitel drei
A ls ich wie versprochen um zwei Minuten nach halb fünf an diesem Nachmittag Amandas Krankenzimmer betrat, schlief sie gerade. Im grellen Tageslicht sahen ihre Verletzungen noch schlimmer aus als am Abend zuvor.
Noah saß an ihrem Bett und las in einem zerfledderten Stephen-King-Roman. Eine Horrorgeschichte zu lesen war unter den gegebenen Umständen sicherlich besonders gruselig, aber King war nun mal Noahs Lieblingsschriftsteller, und wenn ihn das Buch ein wenig ablenkte, umso besser.
Leise schloss ich die Tür hinter mir. Er blickte zu mir auf, und über sein müdes Gesicht huschte ein Lächeln. Das freute mich. Noah bedeutete mir mit erhobener Hand, nicht weiterzugehen, stand leise von seinem Stuhl auf und kam zu mir. Er dirigierte mich in das kleine Badezimmer und schloss die Tür hinter uns.
Ich wollte gerade hallo sagen, doch meine Stimme versagte, da er mein Gesicht in beide Hände nahm und mich küsste, als hinge sein Leben davon ab.
Ich schlang die Arme um seine Taille und zog ihn an mich. Wir küssten uns langsam und zärtlich. Ich seufzte glücklich. Das Waschbecken drückte von hinten gegen meine Beine, und als die Kälte des Porzellans durch meine Jeans drang, bekam ich eine Gänsehaut an den Oberschenkeln.
Noah fühlte sich so warm, fest und stark an und schmeckte ganz schwach nach Pfefferminz – heißes, feuchtes Pfefferminz. Da er sich nicht rasiert hatte, war sein Kinn rauh. Als wir endlich wieder zu Atem kamen, war mein Gesicht ganz wund, aber das kümmerte mich nicht. Es war so herrlich, in seinen Armen zu liegen und zu wissen, dass er mich begehrte!
»Das war ganz schön heiß«, murmelte ich, als sich unsere Münder voneinander lösten.
Noah lächelte verführerisch. »Hey, Doc. Ich hab dich vermisst.«
Ich grinste. »Ich dich auch.« Ein paar Sekunden verstrichen. »Wie geht’s Amanda?«
Ja, ich konnte wirklich ein Stimmungskiller sein, aber ich musste ihm die Frage stellen, schließlich knutschten wir in ihrem Bad. Wirklich nicht sehr taktvoll.
»Ich weiß nicht«, antwortete er und fuhr sich mit den Fingern durch sein verstrubbeltes Haar. »Vorhin ist sie schreiend aufgewacht, aber sie wollte mir nicht sagen, was sie geträumt hat. Ich habe einfach ihre Hand gehalten, bis sie wieder einschlafen konnte.«
Ich nickte. »Mit mir wird sie vermutlich auch nicht reden.« Auch wenn es mir nicht sonderlich gefiel, dass Noah mich hergebeten hatte, würde ich Amanda zwar nicht abweisen, falls sie mit mir reden wollte, aber das Gespräch musste von ihr ausgehen.
Vergewaltigungsopfer leiden häufig an einer posttraumatischen Belastung, die sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich äußern kann. Der körperliche Schmerz mochte für Amanda bald vorüber sein, doch der seelische würde ihr noch für lange Zeit zu schaffen machen.
Noah streichelte mir übers Haar. »Danke fürs Kommen.«
»Gern geschehen. Willst du die ganze Nacht hier verbringen?« Auch wenn ich mir die Frage nicht länger verkneifen konnte, hätte ich sie im gleichen Augenblick gern wieder zurückgenommen. Es klang so egoistisch.
Er hielt eine meiner Haarsträhnen zwischen den Fingern, zupfte daran und sagte: »Nein. Amandas Mutter kommt her. Sie kann mich nicht ausstehen. Wenn du es also ertragen kannst, stehe ich ganz
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