Wächterin der Träume
sich nicht sicher, ob ich es ehrlich meinte? Fragte sie sich, ob mein Mitgefühl lediglich dem Wunsch entsprang, Noah nicht länger als nötig mit ihr teilen zu müssen?
»Ich ging spazieren …«, begann Amanda auf einmal krächzend. Ihre Kehle schien die Worte nur widerwillig hervorzubringen. Sie trank einen Schluck Wasser. »… allein, spätabends. Sagst du mir jetzt etwa auch, wie dumm das war? Alle anderen haben das jedenfalls gesagt.«
»Wer denn zum Beispiel?« Ich hoffte wirklich, sie hatte nicht Noah damit gemeint.
Amanda zuckte die Achseln. »Alle
denken
es. Das sehe ich ihnen an.«
»Amanda, es ist nicht dumm, wenn man sich in einer vertrauten Umgebung sicher fühlt. Und selbst wenn, hast du das, was dir passiert ist, doch nicht verdient! Es war nicht deine Schuld. Ich bin auch schon abends allein nach Hause gegangen.« Aber von jetzt an würde ich mich vorsehen, das kann ich Ihnen sagen.
Sie lächelte ein wenig. »Und das, obwohl du schon mal vergewaltigt worden bist?«
»Soll ich mich deshalb wie ein verschrecktes kleines Mädchen benehmen? Wie ein Opfer? Soll ich mich verstecken, statt ein normales Leben zu führen?«
Sie griff nach meiner Hand und umklammerte sie mit erstaunlicher Kraft. Ich bemerkte ein wenig getrocknetes Blut unter ihren Fingernägeln und fragte mich, ob es von dem Angreifer stammte. Würde das für einen genetischen Fingerabdruck reichen, mit dem die Polizei den Kerl vielleicht überführen konnte?
»Ich will auch keine Angst haben«, gestand sie zaghaft. »Aber ich fürchte so sehr, dass ich nie mehr ganz gesund werde!«
Ich drückte ihre zarten Finger mit meiner viel größeren Hand. »Du wirst wieder gesund.« Davon war ich überzeugt. Und wenn ich in ihre Träume eindringen und ihre Welt eigenhändig wieder zusammenflicken musste.
Moment mal. Hatte
ich
das jetzt gedacht? Noah war doch schließlich der Drachentöter und Beschützer der Unschuldigen und nicht ich. Was hatte Amanda nur an sich, dass ich plötzlich den Wunsch verspürte, sie zu beschützen? Es war doch wohl nicht möglich, dass ich ihr bloß helfen wollte, damit sie sich nicht allzu abhängig von Noah machte?
»Er drückte mich runter«, stieß sie hervor. Mir war klar, dass sie es außer der Polizei noch keinem erzählt hatte. »Er kam wie aus dem Nichts. Ich hörte ihn nicht mal, bis es zu spät war. Gerade noch spazierte ich glücklich und entspannt dahin, und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Boden, und er war über mir.« Sie fasste sich an die Kehle. »Er würgte mich und stopfte mir irgendwas Ekliges in den Mund, damit ich nicht schreien konnte. Ich wehrte mich. Wirklich.«
Als ich sah, wie eine Träne langsam über ihre Wange rann, zog sich mein Herz zusammen, und ich drückte erneut ihre Hand. »Gib dir nicht die Schuld, Amanda.«
Mit feuchten Wangen und schmerzerfülltem Blick schaute sie mich an. »Doch, das tue ich aber.«
Wut stieg in mir hoch. Der Mistkerl, der ihr das angetan hatte, sollte dafür bezahlen. Er sollte leiden. »Hast du sein Gesicht gesehen?«
Sie runzelte die Stirn. »Er hatte sich einen Hut ins Gesicht gezogen. Glaube ich jedenfalls. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern …« Mit einem müden Seufzer ließ sie sich in die Kissen sinken.
Mein Zorn wich einem Hoffnungsschimmer. Wenn sie ihn gesehen hatte, konnte sie ihn auch identifizieren. Möglicherweise weigerte sich ihr Gedächtnis nur aus Selbstschutz davor, sich an sein Gesicht zu erinnern. »Ich möchte, dass du etwas für mich tust, bevor du heute Abend einschläfst«, bat ich sie.
Amanda blickte mich alarmiert an. »Ich will nicht daran denken, wenn ich allein bin. Dann habe ich immer Angst, er findet mich und macht mich fertig.« Sie befingerte ihren Kopfverband.
Ich wusste, was sie meinte. Sie fürchtete, er könnte sie aufspüren und umbringen. Die meisten Vergewaltiger waren keine Mörder, aber das änderte nichts an Amandas Angst. Es war ganz normal, dass sie sich davor fürchtete, er könnte zurückkommen.
»Du sollst nicht an das denken, was geschehen ist, sondern an mich«, erklärte ich ihr. »Ich möchte, dass du dir vorstellst, ich wäre hier bei dir, als deine persönliche Traumführerin.«
Und genau das wollte ich auch sein. Warum zum Teufel nicht? Ich konnte ihr helfen, also war ich doch dazu verpflichtet, etwas zu unternehmen, oder? Ich brauchte sie bloß hinter dem Schleier der Medikamente zu finden und sie durch die Träume zu begleiten, die nach und nach ihre seelischen Wunden
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