Wächterin der Träume
trinken?«
»Ja, bitte.« Ich hätte besser abgelehnt, aber konnte man in dieser Welt überhaupt betrunken werden? Außerdem schmeckte es gut. »Was macht mich, deiner Ansicht nach, so bemerkenswert?« Entschuldigung, dass ich so eitel war, aber ich wollte es wissen.
Hadria reichte mir ein Tuch zum Händeabwischen. »Das Fleisch der Eva-Frucht besitzt große verführerische Kraft.«
Etwas in ihrem Ton veranlasste mich, noch einen Blick auf den Schminkkoffer zu werfen, aber er war verschwunden. Kaum überrascht, schaute ich die Priesterin an.
»Eva bringt alle Begierden ans Tageslicht, gleichgültig, wie läppisch oder abstoßend sie auch sein mögen, und verspricht dir ihre Erfüllung. Doch jedes Mal, wenn du nachgibst, verlierst du ein wenig von dir selbst, bis du nur noch ein Schatten bist.«
»Ein Schatten?«
Mit einem Kopfnicken wies sie auf den finstersten Winkel der Höhle. »Ein Geist.«
Ich folgte ihrem Blick und vermeinte zu sehen, wie sich etwas in der Dunkelheit regte. Rasch sah ich wieder fort. Mein Herz schlug bis zum Hals. »Das war also eine Prüfung?«
Abermals nickte sie. »Und du hast sie bestanden.«
Verletzt starrte ich sie an. Ich hatte gedacht … na ja, ich hatte gedacht, dass sie mich mochte. »Du Biest.«
Sie stellte ein Glas mit rosigem Wein vor mich hin, ohne auf meinen Einwurf zu reagieren. »Weißt du, wie viele Leute Evas Versuchung erliegen? Nahezu jeder, der mit der Frucht in Berührung kommt. Du hattest den Saft an den Händen, hast das Fruchtfleisch angefasst und dennoch widerstanden. Das schaffen sonst nur noch dein Vater und ich, und ich musste jahrelang hart daran arbeiten.«
Wieder etwas, das Morpheus und ich gemeinsam hatten. Na toll. Dadurch fühlte ich mich nicht weniger hintergangen. »Und was, wenn ich nachgegeben hätte?«
Hadria zuckte mit den Schultern. »Dann hätte ich gewusst, wie leicht du zu verführen bist.«
Allmählich drang die Erkenntnis in meinen dicken Schädel. »Aber jetzt wirst du dem Rat sagen, dass ich Versuchungen widerstehen kann?«
»Ja. Da deine Seele unverdorben ist, werden sie schwerlich schlecht von dir denken können.«
Ich wischte mir die Hände ab und trank einen Schluck Wein. Ich war schon deutlich weniger empört. »Wie kommen die Wesen bloß darauf, dass ich eine Zerstörerin bin?«
Sie schaute mir in die Augen. »Lange bevor du geboren wurdest, in den Tagen, als die Menschen die Fähigkeit zu träumen entwickelten, hatte eine Priesterin der Ama eine Vision. Sie sah, wie Morpheus sein Herz an eine Sterbliche verlor und wie ein Kind aus dieser Verbindung hervorging – ein Kind, das zwischen den Welten wandeln konnte. Dieses Mädchen sollte in einer Zeit des Umbruchs zur Welt kommen und, nachdem es erwachsen geworden war, in einen großen Kampf verstrickt werden. Dabei würde es unsere Welt entweder vernichten oder retten.«
Sie hatte schon einmal gesagt, dass sie mich für die Retterin des Traumreiches hielt. Was mich betraf, so wollte ich weder für die Auslöschung noch die Errettung dieser Welt verantwortlich sein.
»Der ganze Mist kommt also nur daher, dass irgendeine alte Frau vor ein paar tausend Jahren eine Vision hatte?« Ich schüttelte den Kopf. »Kommt dir das nicht blöd vor?«
Hadria füllte mein Glas erneut. Dann blickte sie mich nachsichtig an. »Vielleicht, wenn nicht
ich
die ›alte Frau‹ mit der Vision gewesen wäre.«
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Kapitel acht
A ngesichts meiner wahren – wirklich phantastischen – Natur sollte man annehmen, dass ich gut darin bin, Geheimnisse zu bewahren. Davon abgesehen, erfordert ja auch mein Beruf ein gewisses Maß an Diskretion. Aber nein, es fällt mir schrecklich schwer, etwas für mich zu behalten, besonders Menschen gegenüber, die mir nahestehen.
Ich hätte Noah schrecklich gern von Hadrias Prophezeiung erzählt, wusste aber nicht, wie ich es sagen sollte. Mann, im Nachhinein konnte ich es mir ja selbst nicht mehr erklären.
Also wirklich, ich und eine Welt zerstören! Oder eine retten! Schwer vorstellbar, was? Trotzdem musste ich immerzu daran denken. Diese Prophezeiung ging mir fast ebenso oft im Kopf herum wie Phil, der Puppenmacher.
Von ihm hatte ich Noah auch noch nichts erzählt. Aber es war ja auch erst einen Tag her, da brauchte ich noch kein schlechtes Gewissen zu haben. Dabei wollte ich nicht nur einem Streit aus dem Weg gehen – ich wusste ja auch nicht, wie er auf die Neuigkeit reagieren würde. Ich nahm an, er würde sich beherrschen können. Zumindest
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