Wächterin der Träume
weiter und stützte mich dabei mit einer Hand an der schimmernden Wand ab.
Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, gelangte ich in der Tiefe zu einer offenen Halle. Der Boden war mit verschiedenfarbigen Fliesen belegt, ganz in Violett- und Grautönen gehalten, wie es bei Hadria zu erwarten war. Die Wände glänzten schwarz wie Onyx. Von der Decke fielen wie Stalaktiten Lichtstrahlen herein und tauchten den Raum in satten goldenen Glanz.
Und ganz allein, mitten in der Halle, saß an einem groben Tisch Hadria und schälte eine Frucht, die wie eine Kreuzung aus Apfel und Granatapfel aussah.
»Einen schönen Abend wünsche ich dir, Prinzessin.« Ihre volltönende Stimme erfüllte den Raum. »Deine Anwesenheit ist mir eine Ehre.«
»Sag einfach Dawn zu mir«, erwiderte ich. Nur Verek konnte mich Prinzessin nennen, ohne dass ich mich innerlich krümmte. Und wenn es ihr angeblich solch eine Ehre war, warum sah sie mich dann, verdammt noch mal, nicht an?
Endlich hielt sie mit dem Schälen inne und richtete ihre sonderbaren Augen auf mich. »Gut. Möchtest du dich nicht setzen,
Dawn?«
Ich wählte den Stuhl zu ihrer Linken – mit dem Rücken zur Wand und mit Blick auf den Eingang. Bestimmt gab es hier noch mehr Türen zu weiteren Zimmern, aber ich wollte so sichergehen wie nur möglich.
Vor mir auf dem Tisch lag noch ein Messer. »Kann ich helfen?«, fragte ich.
»Danke sehr.«
Ich nahm eine der rubinroten Früchte aus der großen Silberschale und begann sie zu schälen, wobei ich die Schalen in einen Behälter aus Holz warf. »Solche Früchte habe ich noch nie gesehen.«
»Nein? Sie wurden hier etwa zur selben Zeit heimisch, in der eure Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies spielt. Wir nennen sie Eva.«
Ich starrte auf die Frucht in meiner Hand. Huch! Die Frucht vom Baum der Erkenntnis? Was würde passieren, wenn ich mal ein Stück abbiss …?
»Sie ist sehr gut, hat aber eine starke Wirkung. Wir verwenden sie in unseren Zeremonien zur Wahrheitssuche.«
»Wahrheitssuche in einer Welt, die auf Illusionen beruht.« Ich musste über meinen eigenen Scherz lachen, während ich mit dem Messer in die dicke Schale schnitt. »Das müssen ja ein paar interessante Tricks sein.«
Als ich aufblickte, sah ich, dass Hadria mich beobachtete. Ein Lächeln lag auf ihrem schimmernden Gesicht. »Du kannst gern einmal dabei sein, wenn du willst.«
Seltsamerweise wollte ich genau das. »Danke. Es gibt noch immer so viel, was ich über diese Welt nicht weiß.«
Ihr Lächeln wurde stärker. »Du wirst schon noch alles lernen.«
Ich senkte den Blick und schälte weiter. Herb duftender roter Saft lief mir über die Hand. »Nicht, wenn die Oberste Wächterin mich auslöschen lässt.«
»Ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Padera steht dem Rat vor, aber sie spricht nicht für ihn.«
Ihre Worte trösteten mich ein wenig. Schweigend schälte ich die Eva-Frucht zu Ende, legte sie in die Schüssel und griff nach der nächsten. Ich war fast damit fertig, und meine Hände waren klebrig und dufteten köstlich, als ich aus dem Augenwinkel etwas bemerkte.
Ich blickte auf und sah neben mir auf dem Tisch einen riesigen Kosmetikkoffer, bis zum Bersten voll mit Schminkutensilien – und guten noch dazu. Jede Marke und jede hübsche Farbe, nach der ich mir alle zehn Finger leckte, steckte da in nagelneuen Fläschchen und Tuben und Tiegeln in einem Profikoffer von M. A. C., wie in einer Schatztruhe.
»Ähm, was ist das?« Da es zuvor noch nicht da gewesen war, lag die Vermutung nahe, dass Hadria es dorthin gezaubert hatte.
Hadria würdigte den Koffer kaum eines Blickes. »Möchtest du etwas davon haben?«
Ich lachte. »Alles.«
Sie hielt inne und blickte mich mit ihren wirbelnden Blau- und Silber-Augen an. »Nimm dir, was du willst. Nimm alles.«
Stirnrunzelnd sah ich erst sie, dann den Koffer an. Du liebes bisschen, war er etwa größer geworden? War das da im obersten Fach Prada-Parfum? Oh, und Lipgloss von Lancôme. Und ich liebe Jucy Tubes!
Plötzlich überkam mich die überwältigende Erkenntnis, dass ich auf gar keinen Fall auch nur ein Stück aus diesem herrlichen Koffer nehmen durfte – wie sehr ich es mir auch wünschte.
»Nein, danke.« Ich wandte mich ab, bevor ich schwach werden konnte. »Ich brauche nichts.«
»Du bis eine recht bemerkenswerte junge Frau, Dawn.«
»Ich bin fast dreißig.«
Hadria lächelte zuckersüß. »Noch ein Baby.« Sie hielt eine Flasche Wein hoch. »Möchtest du etwas
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