Während die Welt schlief
was David mir erzählen würde.
»Waren Sie es, der ihn im Gefängnis gefoltert hat?«, wollte Amal wissen.
»Nein«, erwiderte er schnell, als wunderte er sich, wie sie darauf kam.
»Dann waren Sie es, der ihn am Checkpoint in Barta’a zusammengeschlagen hat, nicht wahr?«
»Ja«, flüsterte er.
»Warum?«
David senkte den Blick und versuchte, das Wesen der Macht zu erklären – Zwang, nur um des Zwangs willen. Den Rausch und den Kitzel der ungestraften Gewalt.
»Es gibt weder einen Grund dafür noch eine Logik dahinter. Ich war zwanzig Jahre alt, und sie gaben mir die totale Macht über andere Menschen. Amal, ich war voller Zorn. Irgendwie war mir klar, dass er etwas mit dem Geheimnis zu tun hatte, das meine Eltern mit sich herumtrugen. Und ganz tief in meinem Inneren fürchtete ich, ein Araber zu sein. Ich war außer mir, und ich wusste, ich würde nicht bestraft werden, als ich die Waffe hielt.« Er betrachtete das leere Glas. »Könnte ich noch eins bekommen?«
Sie schenkte ihm ein und sah zu, wie das Bier ins Glas strömte. Sie dachte an das Wasser, das sie Yussuf an jenem Tag, als er blutend von seinem Freund Amin nach Hause getragen wurde, eingegossen hatte.
»Ich war eine von den wenigen, die wussten, warum Yussuf an diesem Tag am Checkpoint war, anstatt zu arbeiten«, begann Amal.
David schaute auf.
»Er war unterwegs in Sachen Liebe. Ich weiß es, weil ich damals die Überbringerin der Liebesbriefe war, die Yussuf und Fatima sich gegenseitig schrieben und zwischen Jenin und Barta’a hin- und herschickten.«
Die Geschichte von Yussuf und Fatima hatte sich einige Jahre hingezogen, lange über das Stadium des Liebeswerbens hinaus. Dem anfänglichen Rausch folgte eine längere Phase, in der Yussuf danach strebte, ein würdiger Mann für Fatima zu werden. Er verschob die Hochzeit so lange, bis er für sie sorgen konnte. Als seine Ausbildung beendet war und er ein bisschen Geld gespart hatte, bat er seinen Onkel Darwish, für die Hochzeit den Platz seines Vaters einzunehmen, wie es die uralte Tradition verlangte. An dem Tag, als er David am Checkpoint begegnete, war er unterwegs zu Fatima gewesen, um sie auf die Delegation vorzubereiten, die für ihn um ihre Hand anhalten würde.
»Huda begleitete mich immer, wenn ich einen Brief zu Fatima brachte. Den Lohn teilten wir uns. Yussuf bezahlte uns Geld, einen Qirsh pro Botschaft, und Fatima gab uns selbst gemachte Süßigkeiten«, erzählte Amal.
Der Weg nach Barta’a war ein von wilden Kakteen gesäumter Pfad, auf dem es berauschend nach Jasmin duftete. Auf einer dieser Touren fanden sie dort auch Warda, die einarmige Puppe aus dem Warda-Haus.
Die Mädchen tollten den Weg entlang, hielten hier und da an, um sich Datteln von den Palmen zu angeln, sich Blumen an die Gürtel zu stecken und zu tratschen. Etwa auf halber Strecke rasteten sie unter den »Zwillingen«, zwei Zedern mit stattlichen Stämmen, die vor gut dreihundert Jahren aus dem Libanon eingeführt worden waren und als Einzige ihrer Art an dieser Stelle überlebt hatten.
Unter den »Zwillingen« oder den Olivenbäumen in der Nähe des Warda-Hauses hinterging Amal ihren Bruder und Fatima, indem sie ihre Briefe las.
Amal und Huda spielten die Liebesszenen nach, wie sie sie sich vorstellten.
AMAL: Oh, Fatima, ich liebe dich.
HUDA: Oh, Yussuf, ich liebe dich noch mehr.
AMAL: Nein, Fatima, ich bete dich an.
Bei solchen Sätzen mussten sie kichern. Aber irgendwann wurde der Ton der Briefe von einem Begehren zwischen den Zeilen bestimmt, von einer Intimität, von der Amal und Huda lieber nichts wissen wollten. Einmal, als sie besonders neugierig waren, spielten sie den Inhalt eines bestimmten Briefes nach. Entsetzt ließen sie voneinander ab, als sie plötzlich merkten, dass sie auf einen Zungenkuss zusteuerten.
»Qaraf!« Amal und Huda schüttelten sich voller Abscheu. »Igitt!«
Danach hörten sie auf, die Briefe zu lesen. Sie dachten, sie seien hereingelegt worden und die Botschaft sei extra für sie geschrieben worden, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Daraufhin beschäftigten Amal und Huda sich lieber mit dem Warda-Haus und erfreuten sich an ihrem Botenlohn.
Nachdem Amin den verletzten Yussuf vom Checkpoint nach Hause getragen hatte, blieb er bis zum späten Abend bei ihm. Dalia war in der Nähe und taumelte durch das unsichtbare Labyrinth einer zusammengebrochenen Realität. Zusammen mit Umm Abdallah saß sie auf dem Balkon, der sich unter ihrem Gewicht gefährlich neigte,
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