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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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genau am Jahrestag dieses Ereignisses begegnete ich David zum ersten Mal.
    Während ich über dieses unwahrscheinliche Zusammentreffen nachdachte, hörte ich die Stimme meines Vaters:
    Und meine Augen gossen der Liebestränen Meng’
Auf’s Halsbein, bis beflossen war selbst mein Wehrgehäng.
    Eine Sehnsucht erfüllte die stille Atmosphäre meines Hauses in Pennsylvania. Dort saß ich meinem Bruder gegenüber, der in einer anderen Welt aufgewachsen war, nur ein paar Meilen entfernt von Jenin. Ich streckte David den Brief hin, und plötzlich sah ich Huda vor mir, die mir vor dreiunddreißig Jahren widerwillig denselben Brief entgegenhielt – der physische Beweis dafür, dass die Geschichte sich wiederholt.
    Während David die Worte Yussufs las, verwandelte sich seine anfängliche Nüchternheit in persönliche Betroffenheit, und er begann zu weinen. In seinen Tränen erahnte ich – ohne wirklich zu begreifen – die dunklen Geister einer falschen Identität.
    »Haben Sie je Verdacht geschöpft? Also, bevor Mosche es Ihnen erzählt hat?«, fragte ich.
    »Ich habe immer vermutet, dass etwas nicht ganz koscher war.« Er machte eine kurze Pause und grinste, als er den unfreiwilligen Witz bemerkte. Nur sein linker Mundwinkel hob sich, genau wie bei Yussuf. Der alte Ahorn schwankte im Wind, seine Blätter streiften raschelnd das Fenster.
    »Ich glaube, das fing an, als ich zwölf war, irgendwann vor meiner Bar-Mizwa, als meinem Cousin Ilan im Streit herausrutschte, ich sei kein echter Jude. Er hatte mit angehört, wie
seine Eltern mich einen Goi nannten, der niemals zum Volk gehören würde.«
    David, den das schockierte, ging damit zu seiner Mutter. Wie immer nahm sie ihm liebevoll die Sorgen und setzte scharf hinzu: »Ilan ist dumm, das war er schon immer.« Dann ruhte die Sache erst einmal. Viele Jahre später erfuhr David aber, dass seine Mutter zu Ilans Eltern marschiert war und ihnen noch an der Haustür ihren Zorn entgegengeschleudert hatte. Sein Onkel und seine Tante waren perplex gewesen.
    David lächelte, als er sich ihre Mienen in jenem Moment vorstellte. »Meine Mutter muss einen ziemlichen Eindruck auf sie gemacht haben, denn mein Onkel hat daraufhin praktisch meine ganze Bar-Mizwa bezahlt«, kicherte er.
    »Wie hieß sie? Ihre Mutter, meine ich.«
    »Jolanta. Das bedeutet Veilchen auf Polnisch.« Er lächelte. »Violett war auch ihre Lieblingsfarbe.«
    David beschrieb Jolanta als eine warmherzige, mitfühlende Frau, deren Garderobe farblich an ein Feld voller Wiesenblumen erinnerte. Sie war klein und wurde im Alter rundlicher und hatte »die dichtesten Wimpern, die man sich nur vorstellen kann«. Ihre Kleider endeten immer am Knie. Im Sommer trug sie kurze Ärmel, im Winter lange, dazu passende Schuhe und eine Handtasche. Wenn in einem Kleid doch einmal keine rosa oder lila Farbtöne vorkamen, steckte sie sich ein Sträußchen von den frischen Veilchen an, die sie im Haus zog.
    »Sie kochte unheimlich gerne und bewirtete alle, die zu uns kamen. Es klingt vielleicht wie ein Klischee, aber immer, wenn ich mit meinen Freunden aus der Schule nach Hause kam, standen frische Kekse auf dem Tisch. An den Feiertagen übertraf sie sich selbst und lud so viele Leute ein, wie in unser Haus
passten, manchmal noch ein paar mehr. Das Essen bereitete sie stets mit Liebe zu.«
    David sprach mit sichtlicher Zuneigung von Jolanta. So wie ich mir sie vorstellte, war sie genau, wie ich mir Mama gewünscht hätte: liebevoll, aufmerksam und zärtlich. Sie war erst siebzehn gewesen, geschwächt und verängstigt, als die Alliierten sie aus dem Konzentrationslager befreit hatten. Ihre ganze Familie war im Holocaust umgebracht worden. Es war wirklich eine bittere Ironie, dass Mama, die David geboren hatte, ebenfalls ein Massaker überlebte, dem beinahe ihre ganze Familie zum Opfer gefallen war. Und das letztere Ereignis war wegen des ersteren geschehen. Das bestärkte mich in der Überzeugung, dass die Palästinenser den Preis für den jüdischen Holocaust bezahlen mussten. Die Juden töteten die Familie meiner Mutter, weil die Deutschen Jolantas Familie getötet hatten.
    »Was ist mit Ihrer Mutter? Was für ein Mensch war sie?«, wollte David wissen.
    Tief in mir regte sich eine dunkle Empfindung und legte sich über mich wie eine enge Ritterrüstung, bereit, sich jeder Verletzung von Mamas Andenken entgegenzustellen. Das ständige Zucken ihrer Hand, die ein Eigenleben zu führen schien, die fest zusammengebissenen Zähne, ihre

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