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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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und strickte.
    Obwohl die heile Welt der Kindheit durch die Soldaten bedroht war, hielten sich Amal und Huda an ihre alten Zeitvertreibe: Sie spielten Himmel und Hölle in den Gassen, machten Kartenspiele, die sie während der zermürbenden Ausgangssperren erfunden hatten, und trainierten für den perfekten Überschlag. Außerdem hatten sie wieder damit begonnen, ihre Nasen in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen. An
dem Tag, als Yussuf sich von der Tracht Prügel am Checkpoint erholte, unterbrachen Amal und Huda ihr Spiel, um ihn und Amin vom Südfenster aus zu belauschen. Sie konnten das schmutzige Heftchen genau sehen, das Amin zur Tarnung in ein dickes Buch gelegt hatte.
    Amal und Huda taten empört, obwohl sie natürlich sehr neugierig waren. Abwechselnd spähten sie durch das Fenster, offiziell, weil sie sich vergewissern wollten, wie es Yussuf ging, der noch ganz benommen schlief.
    Nachdem Huda an der Reihe gewesen war, schaute sie Amal mit großen Augen an und berichtete, was sie gesehen hatte. »Dein Bruder ist wach. Ich glaube, sie reden über das schlimme Heft.«
    Sie versuchten, der Unterhaltung zu lauschen, aber sie konnten nur Bruchstücke erhaschen. Die Männer sprachen über den »Yahudi«, und Amal hörte, wie Yussuf zu dem ungläubigen und fassungslosen Amin sagte: »Er ist mein Bruder – Ismael. «
    Huda bekam alles mit und weinte, als Amal ihr eindringlich einschärfte, Yussufs Geheimnis nicht zu verraten – obwohl beide Mädchen nicht genau wussten, worin das Geheimnis eigentlich bestand. Aber sie behielten es für sich, weniger aus Loyalität, sondern eher, weil sie es nicht begriffen. Ismael war doch tot. Das wusste jeder!
    David hörte Amal zu und wünschte sich, in die Vergangenheit reisen zu können. Er hätte vieles anders gemacht. Er hätte Yussuf umarmt und ihn »Bruder« genannt. Hätte das alles verändert? Hätte Yussuf Fatima geheiratet und wäre mit ihr in Palästina geblieben? Hätte sich die Geschichte ganz anders zugetragen? So viele Fragen. Er konnte keine einzige davon beantworten. Jetzt stand er mit dem Kummer, der so groß wie sein Leben war,
vor seiner Schwester Amal. »Haben Sie zum ersten Mal von mir gehört, als Sie Yussuf und Amin belauschten?«, fragte er.
    »Ja und nein.« Für sie hatte er immer gelebt, irgendwo in den Nebeln der Erinnerung ihrer Verwandten. »Ich wurde Jahre nach Ihrem Verschwinden geboren. Für mich waren Sie nie real, selbst nach Yussufs Entdeckung.«
    David atmete tief ein und schluckte die Worte hinunter, die er nicht über die Lippen brachte. Er seufzte nur. Dann fragte er leise, aber eindringlich: »Und was jetzt?«
    »Was meinen Sie?«
    »Bin ich immer noch abstrakt?«
    Nein , dachte sie. Natürlich nicht. Du und ich sind die Reste eines nie eingehaltenen Versprechens, die Erben eines Königreiches aus gestohlenen Identitäten und zerfetzten Realitäten. Sie waren beide allein und entwurzelt, und sie waren Geschwister. Amal liebte David instinktiv, trotz allem, was er getan hatte, trotz allem, was er geworden war. Sie sehnte sich danach, ihn zu umarmen und ihm die Absolution zu erteilen. Sie wollte sich an seinen Tisch setzen und seine Einsamkeit teilen. Aber alles, was sie herausbrachte, war ein trockenes: »Ich weiß nicht.«

41
Davids Geschenk
    2001
    A m 20. Januar 2001 reichte ich David ein Schriftstück, das ihn faszinierte. Es war der Brief, den ich nicht mehr auseinandergefaltet hatte, seit Huda ihn mir vor dreiunddreißig Jahren im Krankenhaus gegeben hatte, damals, als ich mich von meiner Schussverletzung erholte. Ich hatte ihn nie jemandem gezeigt, bis jetzt. Sogar 1983, als ein ganzer Schwarm FBI- und CIA-Agenten in mein Leben einfiel und Informationen verlangte, hatte ich nichts von dem Brief gesagt. Dadurch hielt ich keine Beweise zurück, denn es waren keine darin zu finden, außer der tiefen Menschlichkeit meines Bruders. Nein, ich fand, der Brief gehörte ganz einfach mir.
    Jetzt zeigte ich ihn meinem Bruder David, der ihn anscheinend als ein historisches Dokument betrachtete, als ein Objekt für akademische Studien, ein wissenschaftliches Artefakt, ein Exponat für ein Museum oder einen Sammler. Am Anfang hatte David noch unbeteiligt auf mein Bündel Familienerbstücke geschaut. Am liebsten hätte ich den Brief gleich wieder in den Pappkarton zurückgelegt. Aber dann fiel mir das Datum
des Briefs ins Auge. Was für ein unglaublicher Zufall! Vor dreiunddreißig Jahren hatte Yussuf diese Botschaft niedergeschrieben, und

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