Während die Welt schlief
undurchdringliche Einsamkeit, ihre Tüchtigkeit als Hebamme und ihr stoischer Charakter hatten keine Chance gegen das blumige Bemuttern Jolantas, mitsamt passenden Accessoires und Keksen nach der Schule.
Davids Frage war ein Ruf zu den Waffen. Dalia und ich gegen Jolanta und David. Dalia und ich gegen die Welt. Während meiner endlosen morgendlichen Überlegungen im Exil hatte ich die fundamentale Wahrheit in Mamas Herzen freigelegt. Dafür hatte ich viele Schichten abtragen müssen, die
Festung, die sie und das Schicksal gemeinsam aufgebaut hatten.
»Sie liebte unendlich«, entgegnete ich.
Diese Behauptung kam mir ohne mein Zutun über die Lippen, genau wie die Wahrheit regelrecht heraussprudelt, wenn man sie erst einmal akzeptiert hat, genau wie die Luft aus den Lungen eines Ertrinkenden entweicht, nachdem er gerettet worden ist.
»Als ich klein war, hielt ich sie für kalt. Aber mit der Zeit begriff ich, dass sie zu zerbrechlich war für die Welt, in die sie hineingeboren worden war«, erklärte ich. Der Kummer machte sie hart. Hinter diesem eisernen Panzer, im Schutze ihrer Einsamkeit, liebte sie maßlos.
David hörte aufmerksam zu, dankbar, etwas über die Frau zu erfahren, die ihn geboren hatte.
»An einem Tag im Jahre 1967 erschütterte eine Explosion unsere Küche, während ich dort mit meiner Freundin Huda und meiner kleinen Cousine Aisha in einem Loch kauerte. Mama glaubte, ich sei getötet worden – an dem Tag ging etwas in ihr kaputt«, fuhr ich fort. »Ich vermute, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jahrelang quälte ich mich mit dem Gedanken, ob ich sie hätte retten können.« Wenn ich nicht mit Schwester Marianne nach Bethlehem gegangen wäre und sie in diesem Zelthospital mit ihren Dämonen alleine gelassen hätte. Wenn ich geblieben wäre und sie umarmt hätte, wäre alles anders gekommen?
Aus der Schachtel, in der ich Yussufs Brief aufbewahrte, holte ich Mamas Seidentuch und die bestickte Brustpartie ihrer Lieblingsthoba – die unbelebten Überreste ihrer kurzen Zeit auf dieser Erde. Ich hatte sie in eine Plastiktüte eingewickelt, die ihren Geruch über die Jahrzehnte bewahrt hatte.
David hielt sich Mamas Kleider ans Gesicht und atmete tief ein.
»Sie hat nie viel gebadet«, lächelte ich. Zum vermutlich ersten Mal war ich überwältigt von den charmanten Schrullen meiner Mutter. In diesem heiteren Moment verstand ich, dass Dalia, Umm Yussuf, die nimmermüde Mutter, die immer mehr gab, als sie bekam, für mich der ruhige, standfeste Brunnen war, aus dem ich mein Leben lang Kraft geschöpft hatte. Ich hatte erst ans andere Ende der Welt reisen müssen. Ich hatte lernen müssen, dort zurechtzukommen, hatte in meinem eigenen Kummer und meiner Unzulänglichkeit baden müssen, um zu begreifen, wie ihr eiserner Wille mir meine feste Entschlossenheit geschenkt hatte.
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte David.
»Sie wurde dement, kurz nach dem Krieg von 1967.«
Ich konnte David nicht erklären, dass ihre Krankheit im Grunde eine Gottesgnade war.
Dalia reifte in ihrer Jugend und suchte im Dunkel ihrer Nächte nach dem Sohn, den sie verloren hatte. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht wusste, wo sie nach ihm schauen sollte. Sie liebte nicht, weil sie nach Erfüllung oder Dankbarkeit strebte. Sie liebte gegen ihren Willen. Nachts schlief sie kaum, sondern lag wach auf ihrer Schaumstoffmatte, bis Baba zurückkehrte. Dann stellte sie sich schlafend, bis sie sicher sein konnte, dass er wirklich aß, was sie ihm hingestellt hatte. Mit unglaublicher Energie stürzte sie sich in ihre alltäglichen Aufgaben: Kochen, Putzen, Sticken, Waschen, Wäsche zusammenlegen, bei Geburten helfen – und sie betete gewissenhaft fünfmal am Tag. Als Ammu Darwish einen Rollstuhl brauchte, verkaufte sie heimlich das zweite ihrer beiden Fußkettchen und legte meinem Onkel das Geld vor die Tür. Dieses Geheimnis teilte sie mit mir. Sie passte auf uns alle auf, verantwortungsbewusst,
aber niemals aufdringlich, und sie zog sich in sich selbst zurück und wurde unnahbar, sobald ihr jemand freundlich dankte. Aber ihr Herz war ganz und gar nicht aus Eis, vielmehr aus brodelnder Lava, die sie bewusst kontrollierte, mit fest aufeinandergepressten Zähnen und einer ewig zuckenden Hand; die wahre Natur ihres Herzens offenbarte sie nur selten. Vielleicht war nicht die unendliche Reihe an palästinensischen Tragödien schuld daran, dass die Realität langsam aus ihrem Bewusstsein wich, sondern eine
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