Während die Welt schlief
Geschichte Israels im Grunde nicht die seine war. In seinen Adern strömte die uralte Kultur seiner Vorfahren – aber auch sie gehörte nicht richtig zu ihm. Das Schicksal hatte ihn irgendwo dazwischengeworfen, ins Niemandsland.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte ich. »Mögen Sie Qahwa?«
»Ach … arabischen Kaffee. Ja, sehr gerne.«
Ich war froh, etwas tun zu können, und eilte in die Küche.
Dort legte ich die Hände auf die Arbeitsplatte und stützte mich darauf. Mein Kiefer war angespannt. Ismael, das hilflose Baby, das verloren ging und uns im Geiste verfolgte, ist erwachsen und jetzt hier bei mir. Ich hatte lange keinen Qahwa mehr gemacht. Wo sind die silbernen Mokkatassen? Schließlich fand ich sie. Was macht er? Ich beugte mich über den blubbernden Qahwa und rührte, um die gewünschte Konsistenz zu bekommen. Dalia hat mir beigebracht, wie man’s richtig macht. Ich goss ein bisschen von dem hellbraunen Schaum in die traditionellen Silbertassen und füllte sie dann mit dem dunkleren Kaffee von weiter unten auf.
»Bitte sehr.« Ich reichte ihm die Tasse vor dem Kamin, wo
er stand und das Foto betrachtete, das ich 1981 in Shatila aufgenommen hatte. Yussuf grinst. Man kann seine Zähne sehen. Fatimas scheues Lächeln entspringt einer tiefen Liebe. Und Filastin liegt geborgen in den Armen ihres Vaters.
David schaute von dem Foto auf. Seine Augen waren feucht. Zwischen uns breitete sich Stille aus, wie eine Glasscheibe. Durch die Luft schienen dreiundfünfzig Jahre der Heimatlosigkeit zu wirbeln. Dalia schenkte allen ihren Kindern dunkle, runde Augen, die endlose Traurigkeit in sich aufnehmen konnten.
»Ich sehe ihm so ähnlich«, sagte er in die Stille hinein.
Die Narbe schlängelte sich bogenförmig um Davids Auge herum. Ich stellte mir vor, wie er als Baby mit der frischen, roten Narbe an Dalias Brust lag.
»Genau das hat Ihr Bruder getan, als er mich zum ersten Mal sah. Er hat meine Narbe angestarrt«, erzählte David.
»Sein Name war Yussuf«, sagte ich leise und ungehalten. »Haben Sie ihm wehgetan?«
Meine Frage scheuchte die Geister einer Nation auf, für die es weder Gerechtigkeit noch Erinnern gab. Wie ein Schwarz-Weiß-Film zogen die Bilder an meinen Augen vorbei. Mein Vater, der mich im Arm hält und mir mit tiefer Stimme die Gedichte Khalil Gibrans vorliest. Die Stiefel des Soldaten. Die Schubkarre. Die entrückte Miene der kleinen Aisha. Schwester Marianne und all die Waisenkinder. Die Explosionen und die Schreie. Der rastlose Kummer und die Klagelieder der geschundenen Menschen. Ich gab mich den Erinnerungen einer ereignisreichen Vergangenheit hin, und sie erfüllten mich mit Trauer – doch Zorn hätte ich mir gewünscht.
Sein Kopf fiel nach vorne, als verstünde er den Schmerz ständiger Ungerechtigkeit und die dauerhaften Entbehrungen des Exils. »Ja«, antwortete er mit zitterndem Kinn.
Ich wollte ihn hassen, weil ich Yussuf liebte. Aber in Davids melancholischem Gesicht entdeckte ich Mamas Augen, Babas Nase und Davids eigene gestohlene Identität.
»Haben Sie vielleicht was Stärkeres als Qahwa? Etwas Alkoholisches? «
»Bier hätte ich da.«
»Das nehme ich gern.«
Ich sah ihm beim Trinken zu. Aus seinen Gesten sprach tiefe Einsamkeit. Eine Verlassenheit, von »etwas Stärkerem als Qahwa« an die Oberfläche geholt. Er wirkte wie ein Mann, der alleine an einem Tisch für fünf essen musste. Nicht bemitleidenswert, nicht stark, einfach nur wie ein Mann, den ich kaum kannte, mit kaum abzuschätzendem Potenzial für Fehler, Tugend, Liebe und Hass. Mein Bruder.
Ich ließ mich ins Sofa sinken und lehnte mich zurück. Mein Blick fiel auf die Staubschicht auf dem Couchtisch, und verzweifelt wünschte ich mir, Yussuf nur noch ein Mal sehen zu dürfen . Was würde er tun, wenn er Ismael und mir hier begegnen würde? Drei Geschwister aus dem Land der unendlichen Tragödie. Getrennt voneinander, aber für immer verfolgt von den leisen Stimmen der anderen.
David war mein Bruder, und er war ein Israeli, der in Israels Kriegen gekämpft hatte. Dieser Widerspruch konnte nur durch seine Reue aufgelöst werden. Doch die Wahrheit, nach der ich mich sehnte, hätte alles verändern können.
Ich drückte meine Hand auf meine eigene Narbe, strich über das verhärtete Gewebe, fuhr durch die tiefen Furchen und dachte an das Pfeifen der Kugel, die sich in meinen Unterleib gegraben hatte. Ich musste mich in den Bauch meiner Erinnerung begeben, um mich dem stellen zu können,
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