Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
Vom Netzwerk:
Leben gekostet. Er hatte im Flüchtlingslager geheiratet, Kinder großgezogen und seine zwei verwitweten Schwestern unterstützt. Wie die restlichen Flüchtlinge freute er sich auf die Rückkehr in die Heimat. Doch am Ende wurde er erneut zum Opfer eines ungerechten Schicksals und verlor seine gesamte Familie zum zweiten Mal. Einen dritten Neuanfang konnte es nicht geben. Alles Leben war aufgebraucht.
    Kinder – manche von ihnen erkannte ich wieder – irrten ziellos umher. Ich blickte in die Küchengruft hinunter und sah, dass Huda, wie ein Fötus zusammengekauert, vor und zurück schaukelte. Sie hatte aufgehört zu schreien, doch ich konnte hören, dass sie die Fatiha, die erste Sure des Korans, rezitierte.
    Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen. Lob sei Gott, dem Herrn der Welten, dem Barmherzigen, dem Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert! Dir dienen wir, und Dich bitten wir um Hilfe. Führe uns auf den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen. Amen.
    Dann fing sie von vorne an. Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Gnädigen …

    Ich war wie erstarrt, konnte die Füße nicht vom Boden lösen, als wären sie einzementiert. Ich schaute mich um, nahm alles in mich auf und sah Mama. Sie saß auf dem Boden, ihr Blick war distanziert und leer. Sie schien es nicht zu bemerken, als Lastwagen mit Soldaten anhielten.
    Ich duckte mich zurück in unser Loch, kauerte mich unter Wellblech und ein kaputtes Fahrrad, das ich auf die Schnelle zum Schutz über uns ziehen konnte. Ich machte »psst« zu Huda, und unsere Augen traten angstvoll hervor.
    Dann stand ich wieder auf, sorgsam darauf bedacht zu spähen, ohne gesehen zu werden. Alles, was ich von den Soldaten sehen konnte, waren ihre Beine. Die Männer trugen schwere Stiefel, und es fühlte sich an, als würden sie beim Umhergehen auf mir herumtrampeln. Sie hatten Bomben geworfen und Feuer gelegt, Menschen getötet und verstümmelt, gebrandschatzt und geplündert. Jetzt waren sie gekommen, um das Land für sich zu beanspruchen.
    Als wir Rufe und Gespräche in einer Sprache hörten, die wir nicht verstanden, duckten wir uns tief in das Loch. Dann – ein einziger Schuss. Als ich mich traute, wieder nach draußen zu spähen, sah ich Abu Sameeh auf dem Boden liegen, ein Gewehr in der Hand und seinen toten Sohn im Arm. Die Soldaten hatten ihn erschossen. Er lag mit weit aufgerissenen Augen und ungläubig starrendem Blick da. Sein Leben rann aus seinem Körper auf die Erde, und von der Küchengruft aus sah ich, wie eine Blutlache sich unter ihm ausbreitete.
    Abu Sameeh hatte alle ihm verbliebenen Kräfte mobilisiert und auf den Feind gefeuert, allerdings ohne ihn zu treffen. Sein Schuss ging fehl, und die Soldaten exekutierten ihn. Es war eine barmherzige Tat.
    Huda und ich blieben an Ort und Stelle, wir waren zu verstört, um unser Versteck zu verlassen. Als die Soldaten weg
waren, gruben wir mit den Fingern ein kleines Fach in die Wand unserer Küchengruft und legten das Baby hinein.
    Wir schliefen ein, ineinander verschlungen wie Zwillinge im Mutterleib, bis eine Hand in das Loch griff und uns weckte. Erschrocken und entkräftet blickten wir auf und sahen eine Nonne. Sie schrie in gebrochenem Arabisch: »Bringt Tragen, schnell! Zwei kleine Mädchen! Sie atmen. Hierher!«
    Vor Furcht und Hunger benebelt, klammerten Huda und ich uns in einer stummen Bitte noch enger aneinander. Die Nonne begriff: Wir würden nicht getrennt werden!
    Huda blieb in ihrer Fötushaltung, als wir zu einem provisorischen Krankenhaus gebracht wurden, das internationale Hilfsorganisationen eingerichtet hatten. Ich lag mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf einer Trage und nahm alles in mich auf. Meine Zähne zermahlten den Schmutz, der in meinem Mund klebte, egal, wie sehr ich mich anstrengte, ihn auszuspucken. In diesem Moment sah ich, wie der zerfetzte Leichnam von Hudas Vater in einer Schubkarre vorbeigefahren wurde. Sie sah ihn nicht, ihre Augen waren geschlossen.
    Wo ist Baba? Bitte, Gott, bitte , wiederholte ich endlos, bring ihn jetzt zu mir.
    »Wir haben dich Amal mit langem ›a‹ getauft, weil ein kurzes ›a‹ nur einer Hoffnung, einem Wunsch Ausdruck gibt«, hatte mein Vater einst gesagt. »Du bist so viel mehr als das. Wir setzen all unsere Hoffnungen in dich. Amal mit langem ›a‹ bedeutet viele Hoffnungen und Träume.« Damals war ich erst sechs gewesen, und ich wuchs auf in dem Glauben, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher