Während die Welt schlief
euch sehen kann«, befahl sie uns.
Keiner der Erwachsenen sagte uns, was los war, und so reimten wir es uns aus den Gesprächsfetzen, die wir aufschnappten, so gut es ging zusammen.
Die überstürzte Eile, mit der alles geschah, die langen Seufzer, die intensiven Blicke und die zunehmende Entschlossenheit ließen Huda und mich näher zusammenrücken. Mit aufgerissenen Augen klebten wir völlig verwirrt an der Wand. Es kam eine Durchsage, die Frauen und Kinder aufforderte zu bleiben, wo sie waren, während die Männer sich in Verteidigungsstellungen begeben sollten – »bis die arabische Armee kommt«, sagte jemand. Huda und ich umarmten uns. Furcht kroch in uns hoch, ließ unsere Muskeln zucken und unwillkürlich kontrahieren.
»Ich liebe dich, Amal«, schrie Huda.
»Ich dich auch. Du bist meine beste Freundin, Huda.«
»Du bist auch meine beste Freundin.«
»Wir sind bald in Sicherheit. Mein Baba hat Waffen und wird uns beschützen.«
»Lass uns zusammenbleiben.«
»Egal, was passiert.«
»Schwörst du’s?«
»Ich schwöre es bei Allah.«
Wir umarmten uns, um unser Versprechen zu besiegeln.
Die Männer warteten auf den Feind, doch es tauchten keine feindlichen Soldaten auf.
Die Zeit danach verrann wie ein stetiger Strom, in dem Tag und Nacht ineinander übergingen. Das Gesicht des Feindes blieb uns verborgen, doch wir konnten ihn hören: So viele Tiefflieger flogen über das Land und warfen Bomben ab. Mama scheuchte Huda und mich in das Loch in der Küche, in dem jetzt keine Feuerwaffen mehr lagen.
Das Loch war so tief, wie ich groß war, und breit genug, dass Huda und ich uns auf den Boden kauern konnten. Als ich aus dieser Position zu Mama aufsah, stand ihr Gesicht auf dem Kopf. Wie kräftig ihr Kiefer aus dieser Perspektive wirkte. Als sie uns einschloss, fiel mir eine hell gestrichene Schüssel auf der Küchenanrichte ins Auge, ein Muttertagsgeschenk aus Kindergartenzeiten. Ich erinnerte mich daran, welch offenen Ausdruck Mamas Gesicht angenommen hatte, als ich es ihr überreichte, und wie verschlossen es wurde, als ich ihr sagte, ich wünschte, ich könne es einer besseren Mutter geben. Damals war ich fünf und wollte einfach nur sehen, ob ich sie dazu bringen konnte, die Zähne zusammenzubeißen und die Kiefermuskeln anzuspannen.
Der Deckel schloss sich über uns, und die Muttertagsschüssel verschwand. Es war dunkel in diesem Loch.
»Huda«, flüsterte ich, mich noch immer genauso fest an sie klammernd, wie sie sich an mich klammerte.
»Ja.« Sie zitterte.
»Es tut mir leid, dass ich dich immer anschreie.« Huda war meine einzige echte Freundin. Andere Mädchen hatten kein Verständnis für meine ewigen Wettkämpfe, die ich stets gewinnen musste. Ich war herrisch und grob. Jetzt, dachte ich, würde ich sterben.
Eine halbe Ewigkeit verging. Dann zog Mama plötzlich die Fliesenabdeckung weg und übergab uns ein Baby. Es war Khaltu Samihas kleine Tochter, meine drei Monate alte Cousine Aisha.
»Nimm Aisha. Ich bin bald zurück«, sagte Mama mit heiserer Stimme.
Einen Monat zuvor hatte Khaltu Samiha dem Baby die Ohrläppchen durchstochen, und noch immer trug Aisha die reizenden kleinen Stifte mit den blauen Steinen, die ihr Vater zur Abwehr des bösen Blicks ausgewählt hatte. Wir wussten es noch nicht, doch Khaltu Samiha, ihr Mann und mein sechs Jahre alter Cousin Musa hatten den Angriff nicht überlebt. Nur Aisha lebte noch. Eingewickelt in eine Decke, die Mama ihr zur Geburt gestrickt hatte, hatte Aisha an der Straße zur East Bank gelegen, nicht weit von der Stelle, an der ihre Familie tot auf der Erde lag. Eine Frau, die aus Jenin geflohen war, erkannte die Decke wieder und wusste, dass Mama noch im Lager war, denn sie hatte sich geweigert, mit den anderen zu flüchten. Sie ließ Aisha von einem jungen jordanischen Soldaten, der von seinem Bataillon getrennt worden war, zu Mama bringen. Das Haschemitische Königreich hatte die Soldaten, die sich jetzt auf dem Rückzug befanden, zur Verteidigung gegen Israel bereitgestellt.
Huda, Aisha und ich blieben eine gefühlte Ewigkeit lang in dem Loch. Es herrschte geisterhafte Ruhe. Dann kehrte Mama mit einem Laib Brot und Milch für das Baby zurück. Sie war zerzaust und schmutzig, ihr Blick huschte von einer Seite zur anderen.
»Amal, Huda, ist alles in Ordnung?«, fragte Mama und schob ihren Arm in das Loch, um nach uns zu tasten.
»Ja, Mama, aber …«.
»Rührt euch nicht vom Fleck, Mädchen. Jordanien, Syrien und der Irak kämpfen an
Weitere Kostenlose Bücher