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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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in der Gasse.
    »Haben wir wieder Krieg?«, fragte eine andere. In solchen Momenten der Verwirrung, Verzweiflung und Vorahnung brandete der Lärm wie eine Hoffnungswelle durch die Menge der lebenden Toten.
    Menschen begannen zu rufen: »Allahu akbar!«
    Überall erschienen Gesichter an den Fenstern, und das Geschrei nahm zu, als die Aufregung auf das ganze Lager übergriff. Aus einer vom Feuer versengten Fensteröffnung tönte es euphorisch: »Die arabischen Armeen sind im Anmarsch, um uns zu befreien!« Doch die Reaktionen blieben verhalten, denn wir konnten israelische Soldaten auf ihren Beobachtungsposten thronen sehen. Diese überheblichen Eroberer! Mörder und Diebe. Ich hasste sie genauso wie das Meer von weißen Tüchern, die über unseren Häusern flatterten – als Zeichen unserer erniedrigenden Kapitulation.

    Doch so schnell die Euphorie aufgekommen war, so schnell fiel sie wieder in sich zusammen, als Samirs Worte allmählich Sinn ergaben.
    »Genug. Es ist kein Krieg mehr. Der Junge sagt, dass unsere Söhne am Leben sind«, rief ein Mann und brachte die Kriegsgesänge zum Erliegen. Es war Haj Salim. Er hatte überlebt! Ich fragte mich, wo er Unterschlupf gefunden hatte.
    Haj Salim hatte schon alles erlebt. Das sagte er uns jungen Leuten jedenfalls wieder und wieder. Es ging viel Zeit ins Land, bis wir seine Geschichte kannten, denn er erzählte sie nur stückchenweise. »Ich hab schon alles erlebt«, pflegte er zu sagen. »Ich habe gewissenhaft für diese strohblonden Männer mit den farbigen Augen gearbeitet, und als Dank haben sie fremde Juden hierhergebracht, die meine Möbel gestohlen haben. « Ein Puzzleteilchen nach dem anderen. »Ich habe schon alles erlebt. Alle Kriege. Sie haben uns von unserem Land verjagt und sich sämtliche Möbel, die ich gemacht habe, unter den Nagel gerissen.« Nach solchen Sätzen entfernte sich Haj Salim für gewöhnlich und überließ uns unserer nagenden Neugier. Doch in unserem Lager galt seine Geschichte für alle: eine einzige Geschichte der Vertreibung, die davon erzählte, wie man Menschen ihrer Würde beraubte und sie wie Müll in Flüchtlingslagern ablud, in denen nicht einmal Ratten leben konnten. Wie man Menschen ohne Rechte, Zuhause oder Staat ihrem Schicksal überließ und die Welt ihnen den Rücken kehrte, um den Eindringlingen beim Jubeln über die Ausrufung eines neuen Staates, den sie Israel nannten, zuzusehen oder Beifall zu spenden. Haj Salim war ein kluger Mann von heiterem Gemüt, der reich verzierte Möbel und reizenden Plunder aus Holz herstellte. Er behauptete, ein hochrangiger britischer Offizier habe einmal eine aus Olivenholz geschnitzte Jungfrau
Maria gekauft, um sie der Königin der flachshaarigen Männer mit den farbigen Augen zu schenken. Das brachte mich auf die absurde Idee, Haj Salim kenne eine Königin.
    Er war die dynamischste und lebhafteste Gestalt meiner Jugend, und er war es, der die Geschichte an die Kinder des Lagers weitergab. Alles, was ich über palästinensische Bräuche und Sprichwörter weiß, stammt von ihm. Er nannte mir die Namen und erzählte mir die Geschichten von Menschen, die mir Jahrzehnte später bei der Lektüre historischer Texte als Kriegsopfer wiederbegegnen sollten.
    Wir liebten es, ihn in die Falle zu locken, ihn mit flehentlichen Bitten um eine Geschichte über die alte Zeit zu traktieren. Wir, zehn oder zwanzig rotznasige, barfüßige Bälger, versprachen ihm, ihn nicht mehr zu belästigen, und bettelten so lange, bis er nachgab, wohl wissend, dass wir am nächsten Tag oder schon eine Stunde später wiederkommen würden.
    Wir setzten uns um ihn herum auf den Boden und konzentrierten uns darauf, die großartigen Geschichten, die er uns zum Geschenk machte, in uns aufzusaugen. Er schilderte das Leben und vergangene Ereignisse so lebendig, klar und ausführlich, dass Palästina und sämtliche palästinensischen Ortschaften, von denen Israel viele längst ausradiert hatte, in meiner Fantasie Gestalt annahmen, als hätte ich selbst dort gelebt. Seine von jahrelangem Mu’asal-Genuss rau gewordene Stimme hob und senkte sich temperamentvoll und half unserer Einbildungskraft auf die Sprünge, sodass wir uns mitten unter unseren Vorfahren befanden, vergangene Ereignisse vor uns ablaufen sahen, als fänden sie just in diesem Moment statt.
    In unseren jugendlichen Augen war Haj Salim unvorstellbar alt. »Mindestens neunzig«, mutmaßte Lamya bei einer Gelegenheit. Erst als Erwachsene sollte mir klar werden, dass er

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