Während die Welt schlief
bei Kriegsbeginn erst knapp über sechzig war. Er hatte praktisch
eine Glatze. Hier und da spross dünnes weißes Haar über seinen riesigen Ohren. Sein schlaksiger Körper bestand mehr oder weniger aus stark behaarter brauner Haut und Knochen. Unter der Haut zeichneten sich seine Schlüsselbeine ab wie ein Kleiderbügel unter der traditionellen Dishdasha. Wie die meisten palästinensischen Männer trug er die schwarz-weiß karierte Kufiya lose um den Kopf gewickelt. Er hatte einen zerzausten Schnurrbart, der häufig preisgab, was er gerade gegessen hatte, ein gewaltiges, tiefschwarzes Ungetüm, das niemals alterte – selbst als er schon weit über neunzig war –, ein seltsames Relikt der Jugend in einem welken, alten Gesicht. Das Beste von allem war, dass er keine Zähne hatte. Er habe sie »im Kampf mit dem Skorbut« verloren, sagte er. Natürlich hassten wir Kinder den »Skorbut«, den wir für ein israelisches Ungeheuer hielten. Wenn wir uns Schimpfwörter an den Kopf warfen, verwendeten wir »Skorbut« als Beleidigung. »Du bist niederträchtig wie der Skorbut« gehörte zu meinem Arsenal an Gemeinheiten. Als ich neun war, belehrte mich jemand eines Besseren, und ich benutzte das Wort fortan nie mehr.
Ich erinnere mich gut an dieses zahnlose Grinsen. Als Kinder versuchten meine Cousins, Freunde und ich oft, Haj Salim zum Lachen zu bringen. Wir verspotteten die israelischen Führer, machten uns lustig über den eingebildeten Menachim Begin, dessen Aussehen wir imitierten, indem wir das Gesicht verzogen wie eine Knautschpuppe, oder über die griesgrämige Art Golda Meirs, der »alten Hexe«, wie die Ägypter sie nannten. Wenn Haj Salim sich das Lachen schließlich nicht mehr verkneifen konnte, klaffte in seinem braunen Gesicht ein Spalt aus rosarotem Zahnfleisch; seine Augen verengten sich zu zwei langen Furchen, die sich von den restlichen Lachfalten nicht unterscheiden ließen. Nachdem wir gesehen hatten, was wir sehen wollten, stimmten wir kichernd in sein Gelächter ein.
Ich hatte keine Ahnung, aus welcher Stadt oder welchem Dorf Haj Salim kam, denn er wusste praktisch über ganz Palästina Bescheid. Mama sagte es mir nie, und Yussuf war sich nicht sicher. Es hieß, Haj Salims Familie sei bei der Nakba von 1948 getötet worden – auch wenn er uns diese Geschichte nie erzählte. Er lebte allein, hatte keine Frau, keine Kinder, keine Brüder oder Schwestern. Das war ziemlich außergewöhnlich, denn in der arabischen Gesellschaft dreht sich alles um die meist weitverzweigte Familie. Niemand hatte »keine Familie«. Doch bei den Palästinensern, die nach der Nakba in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurden, gab es so viele Ausnahmen. Haj Salim war mit Yiddo Yahya befreundet gewesen. Zumindest das wusste ich von Baba.
Haj Salim war auch der Erste, der mir von meinem Bruder Ismael erzählte, der im Chaos von 1948 als Säugling verschwunden war. »Das Baby ist einfach spurlos verschwunden«, sagte er, als er wieder einmal alte Geschichten ausgrub. »Danach war deine Mutter nie wieder dieselbe.«
Der Tag, an dem der kleine Samir schreiend durch das Lager rannte und ich erfuhr, dass Haj Salim den Krieg im Juni 1967 überlebt hatte, markierte das Ende meines bisherigen Lebens und den Beginn der Besatzungszeit. Es war vierzig Tage her, dass israelische Soldaten von Hütte zu Hütte gegangen waren, um alle im Lager verbliebenen Männer zusammenzutreiben. Vierzig Tage lang unterlagen wir der Ausgangssperre, und während dieser langen Stunden waren Huda und ich unzertrennlich. Wir gingen sogar zusammen ins Bad. Unser Haus war zerstört worden, und wir hatten Zuflucht in Khaltu Samihas Haus gefunden, wo wir es tunlichst vermieden, den Blick auf Aishas Kinderbettchen zu richten. Mama war schon da, als wir kamen, und betete. Sie sagte nichts zu mir, holte
bloß einen alten Laib Brot und Käse für uns und ging zurück zu ihrem Gebetsteppich. Ich folgte ihr und schlang von hinten die Arme um sie. Ich schämte mich und fragte mich, ob sie bemerkt hatte, dass ich sie allein gelassen hatte. Weder Mama noch ich sagten etwas. Sie tätschelte nur sanft, vielleicht sogar liebevoll meine Hand. Dann ließ ich sie wieder allein. Huda und ich fanden in der Vorratskammer ein Kartenspiel und erfanden Spiele mit improvisierten Regeln. Manchmal saßen wir still in einer Ecke, eingeschläfert vom rhythmischen Gemurmel, das Mamas stundenlange Gebete begleitete, und dem langsamen Wiegen ihres Körpers. Wir kämmten und flochten einander
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