Während die Welt schlief
Vater, wo bist du? Man hat uns auseinandergerissen, und ich frage mich, ob die Juden auch dich gefangen haben. Bist du irgendwo in diesem Gefängnis? Auf dieser Krankenstation?
Ich lebe noch. Man lässt mich frei, in den Garten mit den Pfirsichbäumen, wo ich den Himmel in Fatimas Haut fand. Das Lager ist zerstört. Die Flüchtlinge sind von Neuem zu Flüchtlingen gemacht worden. Ich werde mit offenen Armen zu Hause aufgenommen, aber ich halte es nicht aus. Die Zeichnungen der Folter auf meinem Körper beschämen mich. Ich will nicht feiern. Ich sehe Soldaten auf ihren Beobachtungsposten, und mein Herz füllt sich mit Hass. Seltsamerweise empfinde ich zum ersten Mal so. Aber ich bin mir sicher, es wird nicht das letzte Mal sein.
Um mich herum sind zu viele Menschen. In ihren Gesichtern suche ich nach Fatima. Umm Jamal fragt mich nach ihrem Sohn, aber ich kann ihre Angst nicht ertragen. Den Schmerz der Wahrheit, die sie tief im Inneren schon kennt. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen. Ich will sie nicht anschauen müssen.
Man hört Schüsse, und die Leute lassen uns endlich in Ruhe. Mutter bleibt gefasst, aber ich weiß, dass sie weint. Ihre Tränen fallen auf die falsche Seite, in den bodenlosen Schlund in ihrem Inneren. Meine kleine Schwester Amal kauert in einer Ecke. Irgendetwas ist ihr in die Augen gekrochen und hat sie ausgehöhlt. Ich wünsche mir nichts mehr, als allein zu sein, aber Vaters schmerzliche Abwesenheit zwingt mich, auf Amal zuzugehen, und sie wirft sich an meine Brust und drückt meinen zerschrammten Körper, als wollte sie sich für alle Zeiten an mich ketten.
Vater ist seit dem Krieg nicht mehr gesehen worden. Der Himmel wiegt schwer auf meinen gebrochenen Rippen, als ich mir das Unvorstellbare vorstelle. Dass Vater, der Mann, den ich für unsterblich hielt, gestorben ist. Ich lehne mich zurück, endlich auf ein Kissen, und vernehme die Verse Rumis, vorgetragen mit der heiseren Stimme meines Vaters.
Im Geiste erzähle ich Vater, was ich erfahren habe. Ismael ist ein Yahudi, ein Sayuni, der für Israel kämpft.
16
Die Brüder sehen sich wieder
1967
F ünf israelische Soldaten, vier am Schlagbaum, einer auf dem Wachturm, taten Dienst an einem Checkpoint in der Nähe des Dorfes Barta’a. Paarweise wechselten sie sich bei ihren Aufgaben ab und vertrieben sich die Langeweile durch Grausamkeit. David saß gerade faul im Jeep, als zwei Palästinenser auf den Checkpoint zukamen. Ihre Ausweise und Erlaubnisscheine hielten sie in den Händen. Alles war in Ordnung, aber der Soldat am Schlagbaum ließ die beiden zur Seite treten, wodurch die lange Schlange der wartenden Palästinenser aufgehalten wurde. Der Soldat war ein korpulenter New Yorker, dessen Familie nach Israel ausgewandert war.
»He!« Der Soldat steckte den Kopf in den Jeep, in dem David saß und gerade ein Stück Wassermelone aß. »Komm und schau dir diesen Araber-Hurensohn an. Er sieht aus wie dein verdammter Zwillingsbruder!«, rief er lachend.
Da legte sich Furcht über die Langeweile. Jolantas Schmetterlingsflügel flatterten in Davids Bauch. Mosches Dämon blies ihm seinen heißen Atem in den Nacken. Das Geheimnis, das
er nicht kannte und nicht kennen wollte, war ihm gefolgt. Er zögerte einen Augenblick, bevor er aus dem Jeep stieg.
David folgte seinem vorgesetzten Offizier und unterdrückte den Impuls, ihm einen Tritt zu verpassen und zuzuschauen, wie der dicke New Yorker den Hügel hinunterrollte. Er wollte diesen Palästinenser nicht wiedersehen. Den, der sein Gesicht hatte, bloß ohne die Narbe.
David ging auf den Palästinenser zu und spähte unter seinem Helm hervor. Als er den Mann sah, fiel ihm auf, dass ihre Kieferpartien und Lippen sich glichen – er hatte sogar das gleiche Grübchen im Kinn.
Sie starrten einander an. In ihren Augen standen viele Fragen geschrieben. Wer zum Teufel bist du, Araber? Wie bist du ein Jude geworden, Ismael? In der Luft schwebte ein Geheimnis, das David nicht kennen wollte.
Erfüllt von dem Kummer über so vieles, das schiefgelaufen war, sprach Yussuf den Soldaten an, erst auf Hebräisch, mit den paar Worten, die er kannte, dann auf Arabisch, falls der Soldat ihn verstand: »Ist dein Name Ismael?«
Der New Yorker Israeli lachte.
Heftig mit den Flügeln schlagende Schmetterlinge nahmen David die Sicht, und die Dämonen bliesen ihm in die Ohren.
David ohrfeigte den Araber. Dann schlug er ihn mit seinem Gewehrkolben. Er wusste nicht wieso, aber er konnte nicht aufhören. Er trat
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