Während die Welt schlief
Schmerz in sich ab, schloss ihn in seine Ohnmacht ein. Stille zog in ihre kleine Behausung in Jenin.
Sowohl Amal als auch Yussuf erinnerten sich später an ein Gefühl der Leere, wenn sie an diese Zeit zurückdachten.
Die Palästinenser veränderten sich. Zähigkeit und Widerstand wurden zu einem Teil ihres Wesens. Durchhalten war das Wichtigste, wie in jeder Gemeinschaft aus Flüchtlingen. Doch dafür war ein Preis zu zahlen: Niemand zeigte mehr seine Verletzlichkeit. Stattdessen feierte man die Märtyrer, denn nur das Märtyrertum versprach Freiheit. Nur im Tod konnte Israel ihnen nichts mehr anhaben. Das Märtyrertum war das ultimative Zeichen der Verachtung der israelischen Besatzung gegenüber. »Zeig ihnen niemals, wie weh sie dir getan haben«, lautete das Credo.
Aber das Herz muss trauern. Manchmal verwandelte sich der Schmerz in Freude. Und manchmal konnte man den Unterschied nicht erkennen. Für die Generationen, die in den Flüchtlingslagern geboren wurden, war die Sehnsucht nach dem Tod der einzige Ausweg aus dem Schmerz. Der Tod war das Leben, das Leben war der Tod. Als Amal jung war, wollte sie eine Märtyrerin werden.
Yussuf stimmte nur selten in die zornigen Gesänge der Trauermärsche ein. Er feierte das Märtyrertum nicht, und er zeigte auch keine Trauer. Eine tiefe Sehnsucht nach dem Leben glühte in ihm, unter einer Oberfläche der Gleichgültigkeit.
Amal vergötterte ihn und wäre am liebsten mit ihm verschmolzen. Manchmal setzte sie sich zusammen mit Huda gegenüber der Werkstatt auf die Straße und sah ihm bei der Arbeit zu. Sie hoffte, er würde sie zu sich rufen und ihr einen Blick unter die Motorhaube eines Autos gewähren. Sie wollte an seinem Leben teilhaben. Spüren, dass sie eine Familie waren.
Von ihm umarmt werden, wie damals, am vierzigsten Tag nach dem Krieg.
Yussuf sah sie ein paar Mal, rief sie aber nie zu sich.
Yussuf und Amal sprachen kaum noch miteinander. Nach dem Vorfall bei Barta’a, als er von David halb tot geschlagen worden war, hatte er sein Herz abgeriegelt. Er bekam Briefe von Fatima und beantwortete sie nicht.
Während Yussuf sich abkapselte, geisterte seine Mutter durch die Räume ihrer Vorstellung und sprach mit den Schatten. Umm Abdallah war Dalia eine treue Freundin und verbrachte den ganzen Tag mit ihr. Strickend saßen die beiden auf dem wackeligen Balkon, der unter ihrem Gewicht zitterte. Oft betrachteten Amal und Huda die Frauen und fragten sich, ob sie sehr mutig waren oder einfach nicht wussten, wie baufällig der Balkon war. Im Grunde war er nur ein dekoratives Element, kaum groß genug, um zwei Menschen Platz zu bieten. Ansonsten dachte Amal wenig an Umm Abdallah. Erst Jahre später wurde ihr klar, wie warmherzig die Frau gewesen war, die ihrer Mutter uneingeschränkte Solidarität geschenkt hatte. Umm Abdallah hörte sich geduldig Dalias verwirrte Monologe an und drückte sie sanft wieder auf den Stuhl zurück, wenn sie sich anschickte, orientierungslos umherzuwandern.
Bald nach dem Krieg kehrte Huda wieder zu ihrer Mutter und ihrem Bruder zurück. Aber Huda und Amal waren immer noch den ganzen Tag über zusammen, das war die einzige Form von Beständigkeit, die sie kannten.
Wie früher kümmerten sich die Mädchen hauptsächlich um sich selbst, aber nun war Amal – der Tradition gemäß – auch für den Haushalt zuständig. Vor dem Krieg war Amals Leben bunt gewesen: Babas Vorlesestunden in der Morgendämmerung, das Verhältnis zu ihrer Mutter und Yussufs heimliche Beziehung zu Fatima waren wichtige Farbtupfer gewesen.
Jetzt wurden sie von dem Grün des Militärs und den blassen Tönen des Mangels übermalt. Mitleidig schauten die Nachbarn sie an und flüsterten.
»Was soll aus dem Mädchen werden?«
»Sie ist fast alt genug, um zu heiraten. Das ist gut.«
»Ja. So Gott will, findet sie bald einen guten Mann, der sich um sie kümmern kann.«
Obwohl Amals Körper sich veränderte, war sie noch ein Kind, zwölf Jahre alt. Es war ein kühler Freitag im Januar, die Zitronen waren reif, und die Weinstöcke wurden zurückgeschnitten, als Yussuf früher als erwartet vom Gebet nach Hause kam.
Für Amal war das eine freudige Überraschung. Sie hatte das Mittagessen gekocht, die größte Mahlzeit des Tages, und breitete gerade Zeitungen auf dem Boden aus, dort, wo sie essen wollten. Die Aussicht, etwas Zeit mit ihrem ständig abwesenden Bruder verbringen zu dürfen, stimmte sie froh. Sie wollte ihm unbedingt zeigen, wie gut sie kochen konnte.
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