Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
Vom Netzwerk:
Gerade war Dalia wieder aus den Tiefen der Unwirklichkeit aufgetaucht, und Amal hoffte, sie könnten alle zusammen essen wie in alten Zeiten. So wie die Familie, die sie einmal gewesen waren.
    »Amal, kannst du das zu Fatima bringen?«, bat Yussuf und streckte ihr einen Briefumschlag hin.
    Geknickt fragte sie: »Bleibst du denn nicht zum Essen?«
    Yussuf spürte Amals Enttäuschung. Also tat er, als schnupperte er den »köstlichen Duft« des Essens, dann setzte er sich hin, um an der Mahlzeit teilzuhaben.
    »Seit wann bist du so erwachsen, Amal?«, murmelte er mit vollen Backen.
    »Ich bin fast dreizehn.«
    Yussuf betrachtete seine Schwester. Jetzt fiel ihm auf, dass sie sich verändert hatte. Die Zeit war tatsächlich vergangen,
schnell und unwiederbringlich. Er fühlte sich schuldig, weil er sich seit dem Krieg kaum noch mit ihr beschäftigt hatte. »Du bist schön«, sagte er.
    Das waren die perfektesten Worte, die Amal sich vorstellen konnte. Um ihr Selbstbewusstsein war es nicht gut bestellt – umso mehr freute sie sich. Sie strahlte.
    Gemeinsam aßen sie Makluba – einen Berg Reis, goldfarben durch den Sud von Lamm, Aubergine und Ingwer – und reichten einander Joghurtsauce mit Gurke, geröstete Pinienkerne und knusprige Zwiebeln. Amal war glücklich.
    Während des Essens kicherte Mama hin und wieder. Anscheinend hatte sie irgendwo tief im Dunkel ihrer Seele ein Lachen gefunden. Yussuf und Amal schwiegen und lächelten sich verschwörerisch zu. Später erinnerten sie sich an die fröhliche, gelöste Stimmung, wenn sie an diese letzte Mahlzeit mit Mama zurückdachten.
    Nach dem Mittagessen lief Amal mit dem Umschlag los. Als Erstes holte sie Huda ab, und dann begaben die beiden sich auf den üblichen Weg zu Fatima. »Genau wie in den guten alten Zeiten«, sagte Huda.
    »Ja. Lass uns auf dem Rückweg schauen, ob das Warda-Haus immer noch da ist.«
    Genau wie in den guten alten Zeiten.
    Fatima entdeckte Amal und Huda von ihrem Fenster aus. Sie hatte schon sehnsüchtig auf den Brief ihres Geliebten gewartet. Als sie nun den Brief mit dramatischer Geste entgegennahm, erhellte ihr Lächeln das ganze Haus.
    »Nehmt euch ein paar Kekse, Mädchen. Ich habe heißen Tee auf dem Feuer«, bot sie an. Sie riss den Umschlag auf und ging ins Zimmer nebenan.
    Amal und Huda bedienten sich und warteten. An der Wand lehnte ein großer Spiegel, dessen üppiger goldener Rahmen
von falschen Edelsteinen besetzt war. Amal sah sich in voller Länge. Noch nie zuvor hatte sie ihren ganzen Körper auf einmal betrachten können. Zu Hause in Jenin gab es nur einen kleinen, unzureichenden Spiegel, der über dem Waschbecken im Bad hing. In Fatimas Haus staunte sie zum ersten Mal über ihre knospenden Brüste. Seit Wochen taten sie ihr weh. Unter dem Stoff ihrer Kleidung zeichneten sie sich ab – Amal fuhr mit der Hand über die Rundungen, die Zeichen des Frauseins.
    »Was machst du?« Huda, eifrig an Fatimas Süßigkeiten knabbernd, betrachtete Amal, die ihre Brust mit der Hand umschloss.
    »Meine Brust tut weh«, sagte Amal bemüht lässig, aber ohne rechten Erfolg.
    »Tante Nadia sagt, das ist so, wenn sie beginnen zu wachsen«, erwiderte Huda desinteressiert. »Ich wünschte, meine würden endlich größer werden.« Aufgeregt inspizierte sie die eigene Brust.
    »Warum?«
    »Magst du deine denn nicht?«
    »Sie tun weh.«
    »Ich weiß, dass du sie magst«, sagte Huda vorwurfsvoll.
    »Na und?«
    »Darf ich sie mal anfassen?«
    »Nein!!!«
    In die Stille, die daraufhin folgte, mischte sich Fatimas Schluchzen aus dem anderen Zimmer.
    »Fatima weint«, sagte Huda.
    »Das höre ich selber!«
    »Fatima, alles in Ordnung?«, fragte Amal und öffnete die Tür.
    Fatima, die in ihre riesige blassblaue Dishdasha gehüllt war, war in sich zusammengesunken und hatte das Gesicht in die Hände gelegt. Als sie Amal hörte, schaute sie auf. Sie sah
schrecklich traurig aus. Sie putzte sich die Nase und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen, aber ihre Haare klebten an ihren nassen Wangen, und ihre Augen waren rot und geschwollen.
    Der Brief lag zerknüllt in ihrer Hand.
    »Amal, Liebes, geht doch wieder nach Hause«, sagte sie mit leiser, gequälter Stimme.
    Amal und Huda nahmen den vertrauten Weg, der sich durch die Hügel des nördlichen Palästina wand. Das alte Warda-Haus stand da wie eh und je, aber Warda suchten sie vergeblich.
    Beide spürten den stechenden Schmerz des Verlustes, als sie an die einarmige Puppe – ihr Kind – dachten, aber keine

Weitere Kostenlose Bücher