Während die Welt schlief
Vaters leben musste, oder ich, die ohne das Wissen leben musste, was meinem Vater zugestoßen war? Ich konnte Munas Schmerz nachfühlen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Auf einem Teppich aus Mondlicht hielten wir uns gedankenversunken in den Armen. Sie küsste meine Narbe, und dann schliefen wir ein.
Muna führte mich in ihre Clique ein – eine Art Familienersatz. Unter meinen neuen Freundinnen waren die »kolumbianischen Schwestern«, Yasmina, Layla und Drina, die schon seit drei Jahren im Waisenhaus lebten. Nach dem Krieg von 1948 war es ihrem Vater gelungen, nach Kolumbien auszuwandern. Dort waren die Mädchen geboren und aufgewachsen, im Rhythmus von Salsa und Merengue. Diese Tänze brachten sie mir bei. Ihr Leben in Südamerika war allerdings jäh beendet worden, als ihr Vater an Krebs starb. Das wenige Geld, das er gespart hatte, gab er nicht für seine Behandlung aus, sondern für die Rückkehr seiner Familie nach Palästina. Ein Onkel half
ihnen, eine kleine Wohnung zu finden, und sorgte dafür, dass die Mädchen ins Waisenhaus kamen, denn das war die einzige Möglichkeit für sie, weiter zur Schule zu gehen. Ihre beiden älteren Brüder, die mit der Schule schon fertig waren, wohnten bei der Mutter in Ramallah.
Egal, ob die kolumbianischen Schwestern sich gerade stritten oder gut miteinander auskamen – sie hatten etwas Divenhaftes an sich. Von Drinas Lachen konnte ich nicht genug bekommen. Es war ein unerhörtes Geräusch, das aus ihrem weit geöffneten Mund sprudelte und wie ein betrunkenes Echo von den Wänden abprallte. Sie war die älteste der drei Schwestern – und auch die stärkste. Alle Schülerinnen fürchteten sie. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, dass sie jemals jemanden verprügelt hätte, aber mit ihrem robusten Auftreten wirkte sie oft, als wollte sie sich im nächsten Moment auf ihr Opfer stürzen. Wenn ich an Drina zurückdenke, kommt mir sofort die schnelle Kopfbewegung in den Sinn, mit der sie ihre Augen auf eine von uns richtete, wenn sie absolute Loyalität und Ehrlichkeit forderte.
Einmal schaute sie mich auf diese Art an, und zwar nachdem Miss Haydar mich fünf Stunden lang im Keller, dem »Verlies«, verhört hatte, um mir meine Komplizen zu entlocken. Wir fünf, Muna, die kolumbianischen Schwestern und ich, waren in der vorangegangenen Nacht in den Kunstraum eingebrochen, wie bis dahin in jeder Nacht des Ramadan. Während der letzten Woche des Fastenmonats war Miss Haydar uns auf die Schliche gekommen – wegen einer Schüssel gefüllter Weinblätter, die eine französische Nonne uns gebracht hatte.
Diese Nonne war Schwester Claire. Ich habe es nie geschafft, ihren Namen richtig auszusprechen. Sie hatte besonders Layla ins Herz geschlossen, die mittlere der kolumbianischen Schwestern. Es war während der Weihnachtsfeiertage gewesen, als
eine Abordnung aus dem Kloster Geschenke für die weniger vom Glück Begünstigten brachte – also für uns. Als sie Laylas außergewöhnliche Selbstlosigkeit bemerkt hatte, war die Nonne mit ausgestreckter Hand auf sie zugekommen und hatte sich als »Schwester Claire« vorgestellt. Den eigenen Namen sprach sie aus, als hätte sie Gurgelwasser in der Kehle.
»Darf ich behilflich sein?«, hatte sie gefragt und auf das namenlose Baby in Laylas Armen gedeutet.
»Vielen Dank. Wir haben sie heute Morgen vor dem Haupttor gefunden«, hatte Layla erwidert und das kleine Mädchen vorsichtig der Nonne übergeben.
»Layla kümmert sich immer um die Babys«, hatte Drina erklärt. »Man könnte fast meinen, sie hätte sie alle selbst geboren, bei dem Theater, das sie um die Kleinen macht.«
Das stimmte. Laylas mütterliche Instinkte waren so stark, dass jedes verletzte Mädchen, mochte es nun körperliche oder seelische Beschwerden haben, in Laylas Obhut gegeben wurde.
Layla hatte schwarze Haare, dichte Augenbrauen und volle Lippen, genau wie Drina, nur wirkte ihr Gesicht viel empfindsamer. Während Drinas Züge eine gewisse Kantigkeit aufwiesen, waren sie bei ihrer jüngeren Schwester weich und rund. Die dicken Locken, die alle drei Mädchen von ihrer Mutter geerbt hatten, standen wild und ungebändigt von Drinas Kopf ab; bei Layla fielen sie in geordneten Zöpfen den Rücken hinunter.
Die gute Nonne kam fast jede Woche ins Waisenhaus, nachdem sie Layla kennengelernt hatte. Und jedes Mal brachte sie einen Karton mit feinen Sachen mit. Oft waren Pflaster und Verbände dabei, um Laylas Vorräte wieder aufzufüllen – alle Mädchen, die
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