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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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meine vergessene Decke zu holen. Sie wartete im Kunstraum und sah, wie ich durch das Fenster kletterte, das wir absichtlich unverschlossen gelassen hatten. Die Qualen des fünfstündigen Verhörs durch Miss Haydar hatten sich für mich gelohnt, denn ich verdiente mir Drinas Anerkennung. Sie rechnete mir hoch an, dass ich niemanden verraten hatte. Drinas Respekt war wie eine Tapferkeitsmedaille.
    Obwohl wir so wenig hatten und oft hungrig ins Bett gingen, erinnere ich mich gern an diese Jahre, denn sie waren glücklich, erfüllt und lehrreich. Die Winter in Jerusalem waren weiß und hart. In den kalten Nächten hatte jede von uns nur eine dünne graue Decke, und es war nicht erlaubt, zu zweit in einem Bett zu liegen oder die Betten zusammenzuschieben. Wir wussten, dass wir schrecklichen Ärger kriegen würden, wenn
man uns erwischte, aber wir verstießen ständig gegen diese Regeln, teilten uns Decken und wärmten uns gegenseitig. Ein Jahr nach meiner Ankunft kam ein neues Mädchen ins Waisenhaus. Sie pinkelte auf uns alle, als wir uns zu mehreren zum Schlafen aneinandergekuschelt hatten. Das Mädchen hieß Maha und blieb nur ein paar Monate im Heim. Nach diesem Vorfall achteten wir jedenfalls genauer darauf, wen wir in unsere Clique aufnahmen.
    Umm Ahmad, die Köchin, bereitete drei Mahlzeiten am Tag zu, für ungefähr zweihundert hungrige heranwachsende Mädchen. Das Frühstück, zu dem ich oft zu spät erschien, bestand aus einer großen Scheibe Brot und so viel Tee, wie man mochte. Das Abendessen sah ganz genauso aus, bloß gab es noch ein Stückchen Mortadella dazu. Während meiner vier Jahre im Waisenhaus änderte sich an diesen Mahlzeiten so gut wie nichts. Beim Mittagessen allerdings konnte man sich so richtig den Bauch vollschlagen. Es gab immer eine Art Eintopf, der in einem riesigen Kessel zubereitet wurde, dazu Reis. Wir durften so viel Eintopf nehmen, wie wir wollten, jedenfalls solange noch welcher da war. Leider bestand das einzige Fleisch, das sich im Eintopf befand, aus den Kakerlaken, die in großer Zahl in der Küche lebten.
    Auch daran gewöhnte ich mich. Wir wetteiferten sogar darum, welche von uns die meisten Insekten in ihrer Portion fand. Die schwarzen Biester waren leicht zu entdecken in Speisen wie Okraschoten- oder Tomateneintopf, aber bei Mulukhiya, einem dunklen Gemüsegericht, sah die Sache schon anders aus. An Mulukhiya-Tagen gab es immer ein bedauernswertes Mädchen, das aus Versehen eine Kakerlake mitaß.
    Einmal hatte Muna dieses Pech. Glücklich darüber, dass sie drei Insekten aufgespürt hatte, machte sie sich über ihren Teller her. Zum großen Schrecken der anderen Mädchen zog sie
dann zwischen ihren Zähnen ein schwarzes, längliches Teil hervor, das sich als behaartes Kakerlakenbein entpuppte.
    Jemand rief: »Muna Jalayta hat eine erwischt!« Der ganze Speisesaal brach in Gelächter aus und begann, rhythmisch zu skandieren: »Muna! Muna!« Sofort trat Miss Haydar auf den Plan und befahl uns, ruhig zu sein. Aber die Stille hielt nicht lange an. Sobald sie außer Hörweite war, ging es wieder los. Andere Mädchen kamen an unseren Tisch, um Muna zu trösten und ihr auf die Schulter zu klopfen, als wäre sie ein im Kampf verwundeter Soldat.
    Vor den Mahlzeiten mussten wir uns hintereinander auf dem winzigen Hof vor dem Speisesaal aufstellen. Miss Haydar verlangte, dass wir fünf Reihen bildeten, die exakt im gleichen Abstand zueinander standen, bevor uns Einlass in den Speisesaal gewährt wurde. Wir nahmen ihr seltsames Verhalten als ein Zeichen einer noch nicht diagnostizierten Geisteskrankheit, denn sie ging tatsächlich so weit, die Abstände zwischen den Mädchen der verschiedenen Reihen abzumessen. Diese Übung war besonders im Winter hart, wenn man nicht gerade früh genug im Hof erschien, um einen der drei begehrten »Rohrplätze« zu ergattern. Das waren die Plätze an den drei dicken Rohren, die an der Mauer im Hof entlangliefen und den Dampf aus der Küche nach außen ableiteten. Wenn man neben einem dieser Rohre stand, konnte man sich wärmen, während Miss Haydar mit ihrem lächerlichen Metermaß herumwedelte. Aber mein chronisches Zuspätkommen verhinderte für gewöhnlich, dass ich einen der begehrten Plätze erwischte. Ich konnte mich nie daran gewöhnen, eine halbe Stunde lang in der Kälte herumzustehen.
    Nur ein einziges Mal durfte ich am Rohr stehen, aber nicht etwa deshalb, weil ich früh genug im Hof gewesen war, sondern weil Drina sich erbarmte. Es war ein

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