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Während die Welt schlief

Während die Welt schlief

Titel: Während die Welt schlief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Abulhawa
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sollte ich noch öfter erleben, wie diffuse romantische Gefühle in ihr aufflammten, sobald ein Mann das Schulgelände betrat. Ammu Jack war eindeutig nicht, was sie sich erhofft hatte, aber weder er noch ich begriffen damals, was in ihr vorging.
    »Dieses Institut wurde von Miss Hind Husseini gegründet«, erklärte sie uns mit einer bedeutungsvoll hochgezogenen Augenbraue, »von der Familie Husseini aus Jerusalem.« Die Husseinis waren eine alteingesessene Jerusalemer Honoratiorenfamilie. Miss Hind war eine wohlhabende, unverheiratete Erbin gewesen, als Israel sich 1948 in Palästina ausgebreitet hatte.
    Sie hatte in einer roten Villa neben ihrem eigenen Hotel gewohnt, in dem Adlige, Diplomaten, Würdenträger, Dichter und Schriftsteller ein und aus gegangen waren, bevor Israel die Stadt übernahm. Aber im April 1948 hatten drei verletzte Waisenkinder den Weg nach Jerusalem gefunden. Sie waren durch die Stadt gestreift, bis sie jemand zu Miss Hind brachte. Die Kinder stammten aus Deir Yassin, einem Dorf außerhalb von Jerusalem, in dem mehr als zweihundert palästinensische Männer, Frauen und Kinder von jüdischen Terroristen massakriert worden waren. Miss Hind nahm die Waisen bei sich auf. In den folgenden Wochen begingen die Israelis noch mehr Grausamkeiten, und noch mehr Kinder wurden zu Miss Hind gebracht. Daraufhin schloss sie das Hotel und machte ein Notlager daraus, dann ein Waisenhaus und am Ende eine Schule.
    Miss Haydar war eins der ersten Waisenkinder gewesen und von Miss Hind adoptiert worden, die auch weiterhin unverheiratet blieb. Während der kurzen Einführung für Ammu Jack und mich erzählte uns Miss Haydar ihre eigene Geschichte nicht, sondern stellte sich wichtigtuerisch als Miss Hinds Tochter vor. Die tragischen Umstände ihrer Adoption erfuhr ich erst in den folgenden Tagen von meinen Mitschülerinnen.

    Miss Haydar war eine kaltherzige Frau. Sie versuchte, ihre geringe Körpergröße durch hohe Schuhe auszugleichen, in denen sie sich graziös und mit viel Eleganz bewegte, ganz so, als hätte sie nur gelernt, wie man auf Zehenspitzen ging. Ihr Haar war mit Henna gefärbt und das Einzige an ihr, was weich wirkte. Es rahmte ein steifes Gesicht ein, das von viel zu viel Make-up zugekleistert wurde. Miss Haydars Augen erweckten den Anschein, sie hätten außer dem Waisenhaus nicht viel von der Welt gesehen.
    »Du solltest dich glücklich schätzen, eine kostenlose Schulausbildung in diesem Institut zu bekommen«, sagte sie und schaute mich durchdringend an. »Die Leute bezahlen viel Geld, um ihre Töchter hierherzuschicken.« Sie sprach von den externen Schülerinnen, die tagsüber in die Schule kamen und danach wieder nach Hause fuhren. Wie die anderen Waisenkinder nannte ich sie bald die »Mädchen von draußen«. Während meiner vier Jahre im Waisenhaus freundete ich mich mit keinem einzigen »Mädchen von draußen« an. Wir schnorrten sie um Geld und Essen an oder nahmen es ihnen gleich ab, aber Freundschaften zu ihnen waren schwierig. Sie hatten neue Schuhe, hübsche Schulkleidung und andere Dinge, die wir gerne gehabt hätten, um uns »normal« zu fühlen. Aber ihr Schulgeld, zusammen mit ihren »Spenden«, war letzten Endes, wovon wir Waisenmädchen – die »Mädchen von drinnen« – lebten.
    Das Hauptgebäude war ein fünfstöckiges Schmuckkästchen aus Sandstein mit typisch palästinensischen, bogenförmigen Türen. Der Westflügel diente als Schlafsaal für die Mädchen zwischen zehn und dreiundzwanzig. Den Rest des Gebäudes nahmen die Klassenräume ein, in denen ich Biologie, Mathematik, Arabisch, Religion, Geografie, Deutsch und Englisch hatte. Die Rückseite des Hauses ging auf einen großen Hof hinaus,
auf dem ein einsamer, abgenutzter Basketballkorb stand. Dahinter begrenzte eine efeubewachsene Mauer das Gelände.
    »Nimm deine Sachen und folge mir«, forderte Miss Haydar mich auf und deutete mit dem Kopf gebieterisch auf meine kleine Tasche mit meinen Kleidern. »Mister Jack muss jetzt gehen.«
    Auf einen weiteren Abschied war ich nicht vorbereitet. Mir wurde bange ums Herz, und meine Schultern fielen nach vorne. Ich sank auf die Knie, kurz vor dem Weinen, aber keine Träne rann aus meinen Augen.
    »Verlass mich nicht, Ammu Jack«, flehte ich.
    Mit seinem gewaltigen Körper ging er in die Hocke und schaute mir in die Augen. Dann streifte er sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn und streckte mir die andere entgegen. Darin hielt er ein kleines Paket aus Zeitungspapier und

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