Während die Welt schlief
für die Reise. Man erzählte mir später, Tausende von Menschen seien erschienen, um Ammu Jack die letzte Ehre zu erweisen, in einer Zeremonie, die normalerweise Märtyrern vorbehalten war. Wer Jack gekannt hatte, der liebte ihn, das galt besonders für die Flüchtlinge, denen er die letzten Jahre seines Lebens gewidmet hatte. Sogar ein paar israelische Soldaten von den Checkpoints in Jenin waren gekommen, um Jacks Tochter ihr Beileid auszudrücken. Sie war seine einzige Verwandte und extra aus Irland angereist, denn er hatte in seinem Testament verfügt, dass er in Palästina begraben werden wollte.
Haj Salim weinte bei der Beerdigung. Er ging nie mehr ins Kaffeehaus von Beit Jawad, wo die beiden unzählige Wasserpfeifen zusammen geraucht hatten – die Angewohnheit zweier Männer, die sich immer spielerisch gekabbelt hatten und sich doch einig darin gewesen waren, dass sie der Jugend eine bessere Welt hinterlassen mussten.
23
Das Waisenhaus
1969 – 1973
M una Jalayta hatte recht gehabt: Im Waisenhaus war es gar nicht so schlecht. Von Anfang an nahm sie mich unter ihre Fittiche. Irgendwann während meines zweiten Jahres – es war eine heiße Sommernacht, die Luft war feucht, und die Grillen zirpten – hörte ich, wie Muna sich im Bett über mir hin- und herwälzte.
»Bist du wach?«, flüsterte ich.
»Wer zur Hölle kann jetzt schlafen, außer den schnarchenden Idioten hier?«, schnaubte sie und beugte sich zu mir herunter. »Lass uns die kühlen Fliesen ausprobieren.«
»Gute Idee«, erwiderte ich, während ich aus dem Bett stieg und mein Nachthemd auszog.
»Die Idee ist noch besser: nackt auf die Fliesen.« Aber auf dem Boden war kein Platz mehr. »Auf den Balkon?«
»Klar, warum nicht.«
Wir traten durch die Flügeltür in die frische Luft und wurden sogleich vom Mondlicht berührt.
»Wow! Ich habe den Mond noch nie so nah gesehen«, rief sie und hielt sich an den schmiedeeisernen Gitterstäben des
Balkongeländers fest. Ihre Silhouette hob sich deutlich gegen das Licht des Mondes ab, der tief am Himmel stand, und ich konnte ihre weiblichen Formen erkennen.
»Bei Vollmond muss ich immer an meinen Vater denken. Obwohl ich mich gar nicht richtig an ihn erinnern kann. Ist das nicht komisch?«, fragte sie und atmete mit geschlossenen Augen ein. »Er hat meiner Schwester erzählt, dass der Vollmond das Tor zu Gottes Ohren ist. Findest du das auch so irre?«
»Wir können es Haydar mit ihrem dicken Hintern sagen. Vielleicht saugt der Vollmond sie dann ins Weltall!«, erwiderte ich lahm.
»Ach nee – Abulhija hat ja Humor!«
»Wie sind sie gestorben – deine Eltern?«
Stille. »Mein Vater war Professor und hat in seinen Vorlesungen die Wahrheit über König Abdullahs schmutzige Geschäfte mit Golda Meir erwähnt. Die arabischen Führer haben uns genauso verraten wie die Briten. Haben uns im Regen stehen lassen. Die Schweinehunde. Ich würde jeden Einzelnen umbringen, wenn ich könnte, von den Haschemiten bis zum Königshaus der Saudis.« Wieder holte sie tief Luft. »Die Studenten haben meinen Vater geliebt und sich um Plätze für seine Vorlesungen gestritten. Das hat ihn wahrscheinlich so gefährlich gemacht für die Haschemiten.
Es war ein Tag im Februar, wir kamen von meiner Tante, und der Regen hatte eingesetzt. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester Jamila und ich eilten unter unseren Regenschirmen nach Hause. Mutter ermahnte mich gerade, nicht in jede Pfütze zu springen, da rief ein Agent der jordanischen Haschemiten: ›Ahmad Jabir Jalayta!‹«
Als Munas Vater auf seinen Namen reagierte, schoss ihn der Agent in den Kopf. Eine zweite Kugel durchschlug die Lunge
von Munas Mutter, als sie sich vor ihren Mann warf. Zwei Schüsse, Angst, Regen – das waren Munas früheste Erinnerungen. Sie war vier Jahre alt gewesen.
Wir lagen auf dem Rücken, ihr Kopf ruhte auf meinem Bauch. Ich hatte unsere Nachthemden zusammengerollt und benutzte sie als Kissen. Der Mond warf ein fahles Licht auf unsere dunkle Haut. »Das tut mir leid, Muna«, sagte ich und strich ihr liebevoll über das Haar. Mit meinen verschwitzten Füßen spielte ich am Balkongitter herum.
Ich erinnere mich gut an diese Nacht und an die schöne Stimmung zwischen uns Freundinnen. Ich spürte eine unaufhaltsame Entwicklung in meinem Inneren: Ich war kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau. Heimlich fragte ich mich, wer von uns beiden es wohl besser getroffen hatte. Sie, die mit der schrecklichen Erinnerung an den Tod ihres
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