Während die Welt schlief
braunem Klebeband.
»Ich hätte es nicht so lange behalten dürfen«, sagte er leise. »Ich wollte es eigentlich deinem Bruder Yussuf geben. Aber ich habe nicht den Mut aufgebracht, ihm zu berichten, was ich an dem Tag miterlebt habe, an dem das hier zu Boden fiel.«
Zögerlich, fast quälend langsam reichte er mir das Paket.
»Ich konnte nichts mehr tun, Amal«, sagte er und griff damit schon vor auf die Fragen, die ich ihm nach dem Öffnen des Pakets stellen würde.
Aber Miss Haydar zog mich fort von ihm und riss mich ungeduldig am Arm. »Jetzt ist es genug. Es wird schon dunkel.«
Sie wandte sich an Ammu Jack. »Danke, Sir. Bitte gehen Sie doch allein zurück zum Tor.«
Ungefähr dreißig Mädchen hatten sich versammelt, um die Neue zu sehen, die langsam die enge, dreihundert Jahre alte Treppe hinaufkam. Unter ihren Blicken ging ich durch den
Raum, mit dem Päckchen von Ammu Jack und Lamyas Würfeln in den Fäusten – das war alles, was von meinem früheren Leben übrig geblieben war. Miss Haydar zeigte mir meine Schlafstatt, ein seltsames Gebilde aus Metall, das sie ein »Etagenbett« nannte. Sechzehn dieser Etagenbetten standen im Saal, je acht zu beiden Seiten, und alle einunddreißig Bewohnerinnen beäugten mich neugierig. Zweiundsechzig Augen – ein stummes Tribunal.
»Mädchen, führt sie herum und schärft ihr die Regeln ein«, befahl Miss Haydar und stöckelte auf ihren hohen Schuhen davon. Die Mädchen kamen auf mich zu, und ich ging innerlich in Deckung.
Das Mädchen, das am nächsten bei mir stand, eine Rothaarige mit durchsichtiger Haut und freundlichem Lächeln, strich mir liebevoll über den Kopf. »Du hast schöne Haare. Ich heiße Samra.« Ich sollte bald erfahren, dass ihr Name ein Dauerwitz im Waisenhaus war, denn »Samra« bedeutet auf Arabisch »die Dunkelhäutige«. Ihr Karottenkopf aber wirkte wie ein orangefarbener Ballon in einem schwarzen Ozean.
»Wie heißt du?«
Ich gab keine Antwort.
»Wo kommst du her?«, wollte eine andere wissen. Dann stellten alle ihre Fragen.
»Warum bist du so traurig?«
»Willst du meine Freundin sein?«
»Bist du auch ein Waisenkind?«
»Hat Haydar dir ihren blöden Vortrag gehalten?«
Weil sie von mir keine Antworten bekamen, gaben sie sich selbst welche.
»Natürlich ist sie ein Waisenkind, du Dummkopf!«
»Sie heißt Amal. Ich habe es mitbekommen, als Haydar telefoniert hat.«
»Warum um alles in der Welt sollte sie ausgerechnet deine Freundin sein wollen, Hasenzahn?«
»Haydar erzählt doch nur Blödsinn.«
Eine ältere Schülerin mit dunkler Haut und seidigen schwarzen Haaren tadelte die anderen voller Autorität: »Lasst sie in Ruhe! Seht ihr denn nicht, dass sie ganz durcheinander ist? Stürzt euch doch nicht auf sie wie die Hyänen!« Alle gehorchten. Das war meine erste Begegnung mit Muna Jalayta, die mir eine gute Freundin wurde.
Bevor sie wieder ging, versicherte Muna mir, dass es hier im Waisenhaus gar nicht so schlecht sei. Sie versprach, die Mädchen von mir fernzuhalten, so lange sie konnte. Dann lächelte sie und verließ den Saal.
Allein und verweint, erstaunt darüber, wie das Leben manchmal spielt, öffnete ich das Päckchen von Ammu Jack. Ich riss das Zeitungspapier ab, machte die hauchdünne Schachtel auf und entdeckte eine Pfeife aus Olivenholz. Ich ergriff sie – und hielt meine schwachen Erinnerungen an Baba in der Hand. Wir beide, die Gedichte und die aufgehende Sonne. Am Mundstück war eine Stelle abgeschabt, dort, wo Babas Schnurrbart sich über die Jahre in das Holz gegraben hatte. Die Pfeife duftete noch immer nach dem Apfel-Honig-Tabak, den Baba geraucht hatte, nach Babas angestrengtem Atem und seinen müden Kleidern, wenn er seine Liebe zu mir mit Poesie im Morgengrauen ausdrückte. Diesen Geruch kannte ich so gut, dass er sich in meinem Kopf inzwischen untrennbar mit dem Sonnenaufgang verbunden hatte. An meinem ersten Abend in dem Jerusalemer Heim für palästinensische Mädchen lag ich in meinem Etagenbett und kuschelte mich an Babas Liebe. Der beruhigende Duft meines Vaters legte sich über meine Wunden und lullte mich sanft in den Schlaf.
Ich habe Ammu Jack nie wiedergesehen. Ich hätte ihn gern gefragt, wie er an die Pfeife meines Vaters gekommen war. Aber im Sommer 1971, zwei Jahre nach meiner Ankunft im Waisenhaus, erfuhr ich, dass Jack friedlich im Schlaf gestorben war. Ich konnte nicht zur Beerdigung nach Jenin fahren, weil dort Ausgangssperre herrschte. Davon abgesehen hatte ich nicht das Geld
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