Während die Welt schlief
und grinste. Ich wusste, es war ein Brief von Huda. Ich legte ihn in eine alte Blechdose, die ich vor vielen Jahren von einer Golfstaaten-Hilfsorganisation als Geschenk zum Eid -Fest bekommen hatte. Sie war zerkratzt und verbeult und enthielt meine wertvollsten Besitztümer: Babas Pfeife, das Bruststück von Mamas geliebter Thoba, ihren ausgeblichenen Seidenschleier, die Würfel, die Lamya mir schuldbewusst zurückgegeben hatte, und einen Stapel Briefe von Muna Jalayta, die ich in den vier Jahren im Waisenhaus gesammelt hatte.
Obwohl wir Bewohnerinnen desselben Schlafsaals gewesen waren, hatten Muna und ich uns Briefe geschrieben, in denen wir über die Entwicklungen im Waisenhaus getratscht und uns gegenseitig unsere Geheimnisse anvertraut hatten. Auf diese Weise konnten wir unsere Isolation und Langeweile überwinden.
Wie sich später herausstellte, wurden diese Briefe zu einer Art Chronik unseres Lebens im Waisenhaus – sie berichten davon, wie wir uns das zusätzliche Essen schwesterlich teilten, Käfer in unseren Schüsseln entdeckten und uns gegenseitig die Läuse aus den Haaren kämmten. Die Briefe zeugten von einer tiefen Freundschaft, entstanden aus unserem Überlebenswillen und dem Bedürfnis nach einer Art Familie. Sie erzählten außerdem vom »weißen Kamm«, von albernen Spielen, die wir erfanden, und davon, wie wir immer wieder in den Kunstraum und die Krankenstation einbrachen, um Farbe und Verbandsmaterial für Layla zu klauen. In den Briefen schrieb Muna auch über den Jungen, in den sie verliebt war – er hieß, lustigerweise, Osama. Ich scherzte oft, dass ich mir auch einen Jungen mit diesem Namen suchen müsse, da ja meine beiden besten Freundinnen Huda und Muna jeweils einen Osama heiraten würden.
An diese Jahre denke ich voller Nostalgie zurück. Es stimmt zwar, dass wir nachts frieren und kalt baden mussten, aber wir hatten so gut wie alles, was wir brauchten, um unsere Seelen zu erwärmen. Wir waren einander Freundinnen und gleichzeitig Mütter, Schwestern, Lehrerinnen, Ernährerinnen und warme Decken. Wir teilten alles, von Kleidern bis hin zu Kummer. Wir lachten zusammen und ritzten unsere Namen in die antiken Steine von Jerusalem.
Wir alle waren Opfer der Vertreibung und versuchten, unter der israelischen Besatzung zu leben, so gut es ging. Unsere größte Freude waren Momente der Normalität. Die Schwärmerei für einen Jungen. Ein Kartenspiel. Schmutzige Witze erzählen, während wir unsere Kleider auf dem Dach unseres fünfstöckigen Hauses von Hand wuschen. Anspornende Worte einer Lehrerin. Unser Bund gründete auf dem kollektiven
Engagement für unser Überleben. Unser Bund überdauerte Zeit und Raum, sogar Krieg, und erlebte unsere gemeinsamen und individuellen Tragödien und Triumphe. Unser Bund war Palästina. Unser Bund war eine Sprache, die wir auseinandernahmen, um uns ein Zuhause zu schaffen.
TEIL 4
Al Ghurba
In der Fremde
24
Amerika
1973
G efühle von Unzulänglichkeit begleiteten meine ersten Monate in Amerika. Ich stolperte in diese unbegrenzte Welt und versuchte dazuzugehören. Aber meine Fremdheit zeigte sich in meiner braunen Haut und meinem Akzent. Die Staatenlosigkeit klebte an mir wie ein schlechtes Parfum, und die Flugzeugentführungen der siebziger Jahre hafteten meinem arabischen Nachnamen an.
»Keine Angst. Hast du noch nie eine Rolltreppe gesehen?«, fragte mich eine hübsche Rothaarige am Philadelphia International Airport.
Das nannte man also: Roll-trep-pe.
»Du musst Amal sein.« Sie streckte mir eine weiche, manikürte Hand hin. »Ich bin Lisa Haddad. Meine Mutter parkt bloß noch das Auto. Wir sind deine Gastfamilie.«
Lisa war jünger, aber viel weltmännischer und attraktiver als ich.
»Hallo«, sagte ich und schaute sie mit offensichtlichem Neid an.
»Ich habe das Gästezimmer für dich hergerichtet«, verkündete
Lisa auf der kurzen Fahrt vom Flughafen zu ihrem Haus. Man konnte kaum anders, als sie sympathisch zu finden. Ihre Welt war pastellfarben, geborgen, finanziell abgesichert und politisch inkonsequent. Ich fand die Vorstellung, dass sie mein Wohlwollen suchte und von mir gemocht werden wollte, gleichzeitig seltsam und aufregend.
»Danke«, entgegnete ich. Ich war unsicher, wie die korrekte amerikanische Erwiderung auf ihren Enthusiasmus auszusehen hatte. In der arabischen Welt bildet die Dankbarkeit eine eigene Sprache. »Möge Gott die Hände segnen, die mir dieses Geschenk überreichen«; »Die Schönheit liegt in deinen Augen,
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