Während die Welt schlief
verband uns beide als erwachsen gewordene Geschwister. Es tat ihm leid, dass er mich in Jenin zurückgelassen
hatte. Er hätte mich mitgenommen, wenn er gekonnt hätte. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da war, als Mama starb.« Er hatte erst ein Jahr danach erfahren, dass man mich angeschossen hatte. Das Leben war hart gewesen. Für mich auch. Aber jetzt waren wir wieder eine Familie, und jetzt gab es ein Kind, eine Verheißung, für die wir leben konnten.
»Ich konnte nicht anders, Amal. Aber ich will es wiedergutmachen. Ich möchte ab jetzt für dich da sein.«
»Du hast dein Bestes getan, mein Bruder, das weiß ich.«
»Es gibt ein paar Dinge, die ich dir nie erzählt habe«, begann Yussuf. Er schaute auf seine Hände, als lägen die Worte in seinen Handflächen. »Unser Bruder Ismael, das Baby, das wir 1948 verloren haben, ist am Leben«, sagte er und blickte mich gespannt an.
Er reagierte überrascht, als ich ihm erklärte, dass ich es schon wusste – oder zumindest vermutete, seit Huda und ich einmal mit angehört hatten, wie er über den Yahudi, den sie David nennen, sprach.
»Weiß Huda es auch?«
»Ich glaube kaum, dass sie deiner Äußerung damals die gleiche Bedeutung zugemessen hat wie ich. Wir haben jedenfalls nie darüber gesprochen.«
Mein Bruder und ich brachten Fatima das Essen ans Bett, als sie aufwachte. Zu dritt feierten wir unser Wiedersehen als Familie und machten uns über die Reste her, Jibna und Wassermelonen. Noch heute sehe ich diesen Tag wie einen Film vor mir, komischerweise ohne Ton. In der Rhapsodie von Mutter und Kind gibt Filastins kleiner Kopf, der an der Brust Fatimas auf und ab wippt, den Takt an. Fatima sieht wunderschön aus, sie ist überglücklich, verliebt. Jemand sagt etwas Lustiges, und ich bemerke eine silberne Füllung in Yussufs Backenzahn, als
er seinen Mund beim Lachen weit öffnet. Das Brot – langes, dünnes iranisches Khubz, das ich so mag – wird gebrochen und herumgereicht.
Später stolziert Yussuf durch das Lager, mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm. Ich nehme sie ihm kurz ab, und Yussuf setzt sich hin und zündet sich die frisch gefüllte Pfeife unseres Vaters an. Er atmet den Rauch tief ein, seine Lider werden schwer, und vor seinem geistigen Auge zieht irgendeine Erinnerung vorbei, die ihm ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Er öffnet die Augen, und wir sind geborgen im Geruch unseres Vaters. Meine Erinnerung kann seine Lippen lesen, aber die Worte nicht hören: »Baba und Mama hätten getanzt heute«, sagt Yussuf. Seit er ein kleiner Junge war, hatte er sich gewünscht, sie noch einmal tanzen zu sehen, wie an dem Tag, als Jiddu Yahya mit den verbotenen Früchten aus Ein Hod zurückkehrte und alle Flüchtlinge feierten.
An diesem Abend in Shatila knipste ich viele Fotos, aber es gibt eines, das ich ganz besonders hüte. Weil es mich genau an die ausgelassene Freude dieses Tages erinnerte, ließ ich es rahmen und stellte es auf den Kaminsims. Dieses Foto war es auch, das mein Haus in Philadelphia in einer CIA-Plastiktüte verließ. Danach suchte ich verzweifelt nach dem Negativ, damit ich mir einen weiteren Abzug bestellen konnte. Mein großer Bruder ist auf dem Bild festgehalten, mit einem breiten, verzückten Lächeln. Er hält sein erstgeborenes Kind hoch, Filastin, und Fatima, seine große Liebe, lehnt sich liebevoll an seine Schulter. Auch sie lächelt, in der winzigen Behausung im Barackendorf.
In diesem Sommer im Libanon kamen Fatima und ich uns von Frau zu Frau näher. Ich war nicht mehr das kleine Mädchen, das Briefe überbrachte und barfuß im Camp spielte, sondern eine junge Frau, die sie unter ihre Fittiche nehmen konnte. Wir
teilten uns die Hausarbeit und erfreuten uns an Filastins Entwicklungsfortschritten. Fatima machte es sich außerdem zur Aufgabe, einen Ehemann für mich zu suchen.
Sie hatte dabei nur einen Mann im Sinn, einen Arzt, der unter ähnlichen Umständen wie ich zu seinem Beruf gefunden hatte. Er war Flüchtling und Waise und hatte ein Stipendium der Vereinten Nationen bekommen, mit dem er elf Jahre in Oxford gewesen war. Dort hatte man ihn zum Gefäßchirurgen ausgebildet.
Natürlich tat ich so, als wäre ich nicht interessiert. Aber sie versuchte, mich zu provozieren, und scherzte darüber, wie frustriert ich darüber sein müsse, in meinem Alter noch ohne Mann zu sein.
»Nun, du bist sicher Expertin darin, denn du hattest ja erst mit zweiunddreißig Jahren Sex«, gab ich zurück.
»Ja. Und das war es
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