Während die Welt schlief
denn?«
»Weißt du, wie das Sternbild des Löwen aussieht?«
»Ja, das ist mein Sternzeichen«, antwortete ich.
»Ich weiß«, sagte er. »Kannst du den Umriss erkennen? Folge meinem Finger.« Er zeichnete den Kopf des Löwen in die Luft und erläuterte: »Das ist Algieba, hier ist Ras al-Asad, da Alterf…«
»Das sind die arabischen Bezeichnungen. Sind das auch die eigentlichen Namen?«
»Ja. Die Araber haben die Sterne benannt. Die Namen von damals werden immer noch benutzt. Aber die Sternbilder haben griechische Namen. Siehst du, wo ich hinzeige?«
Ich stellte mich hinter ihn, um die Sterne besser erkennen zu können. Aber ich sah nur, dass seine Schultern von einem Ende des Ozeans bis zum anderen reichten.
»Woher weißt du so viel über den Sternenhimmel? Oder dass mein Sternzeichen Löwe ist?«, fragte ich und trat einen Schritt zurück.
»Al-Sufis Suwaru-l Kawakib«, erklärte er und schaute konzentriert nach oben. Das war Majids wertvollster materieller Besitz: eines der frühesten Bücher über Sternbilder, geschrieben im zehnten Jahrhundert. »Ich bringe es mit, wenn ich Yussuf das nächste Mal besuche.«
Er fügte hinzu: »Dein Bruder und ich stehen uns sehr nahe. Wir haben über dich gesprochen.« Er schaute mir in die Augen. »Sogar erst kürzlich, weil ich nach dir gefragt habe.« Sein Lächeln spannte sich von seinen Lippen bis in mein Herz.
Fatima wartete schon auf mich, als ich zurückkam.
»Und?«, fragte sie.
»Er ist nett«, antwortete ich. Ich wollte ihre Neugier nicht sofort befriedigen – andererseits platzte ich vor Aufregung.
»Aha! Er gefällt dir. Das sehe ich. Aber du willst nicht zugeben, dass ich das richtige Händchen bei euch beiden hatte«, tönte sie und klopfte sich selbst auf die Schulter.
»Na schön, Frau Neunmalklug. Und was, wenn er mir nicht gefiele? Du hast versucht, mich mit einem fremden Mann zu verkuppeln! Was bist du eigentlich für eine Araberin?«, witzelte ich.
»Er ist wohl kaum ein Fremder. Seit der Schlacht von Karameh ist er der beste Freund deines Bruders. Er hat Yussuf gerettet,
als er achtundsechzig die Kugel ins Bein bekam«, erklärte Fatima.
Ich war überrascht, dass Majid überhaupt etwas mit den Gefechten zu tun gehabt hatte. »Wie hat er als PLO-Kämpfer ein Stipendium für England bekommen?«
»Yussuf bekam mit, dass Majid im Lager ein hervorragender Schüler gewesen war, aber kein Stipendium für die Universität ergattert hatte. Also kümmerte dein Bruder sich darum. Über die Schule hatte er Verbindungen zum UN-Personal und schaffte es, Majids Unterlagen den richtigen Leuten vorzulegen. «
»Das hat er mir nicht erzählt«, erwiderte ich.
»Das wird er bestimmt noch. Sag mir aber erst, wer hat hier immer das richtige Händchen?«
»Meine alberne Schwägerin.«
»Gut, dass du es jetzt zugibst. Der Blick, den du mir vorm Weggehen zugeworfen hast, war gruselig.«
27
Der Brief
1981
M ajid war von nun an ständig in Amals Gedanken. Ihre Tagträume drehten sich nur noch um ihn, und sie spulte ihre Unterhaltungen im Geiste immer wieder von vorne ab, um jede noch so kleine Nuance in seinen Worten aufzuspüren. Sie wurde unruhig, als eine ganze Woche verging, ohne dass sie ein Wort von ihm hörte. Zwei weitere Wochen des Taumelns in der Ungewissheit sollten verstreichen, bis Majid wieder zu Besuch ins Haus ihres Bruders kam.
Ständig suchte sie die Umgebung nach dem verbeulten kleinen Fiat ab. Sie hoffte – nein, sie betete –, er käme ins Lager, um einen Hausbesuch bei einem Patienten zu machen oder um junge Ärzte zu unterrichten. Sie hörte sich überall um, ob jemand wusste, wo Majid sich aufhielt, wann er seine nächsten Patientenbesuche machen oder seine Kameraden treffen wollte. Die Frauen von Shatila bemerkten sofort, was mit ihr los war, und tuschelten, wenn sie die junge Lehrerin sahen, die (da waren sie sich ganz sicher) Ausschau nach Doktor Majid hielt. Ja, sie tratschten, aber es geschah nicht aus Boshaftigkeit, sondern eher aus Gewohnheit und aus Nostalgie nach
den früheren Zeiten, in denen die Liebe das Größte gewesen war, was ihnen begegnen konnte. Außerdem finden in einem Flüchtlingslager, wo so viele Menschen auf engem Raum zusammenleben, nicht einmal Geheimnisse ein Plätzchen zum Verstecken.
Eines Morgens passten einige Mädchen ihre Lehrerin auf dem Weg zur Schule ab, so wie sie es mittlerweile immer machten. »Guten Morgen, Abla Amal!« Amal schaute zu den Schülerinnen, die alle blaue Uniformen und
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