Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Isabel keine Kampfsportarten. Noch nicht einmal ein Pfefferspray steckte in ihrer Handtasche.
Vielleicht war er gar kein Journalist. Journalist zu sein schien ihr die beste Ausrede, um ein Gothic-Konzert zu besuchen, obwohl man eigentlich schon zu alt für so was war und auch nicht die passenden Klamotten trug.
Isabels Geist befand sich in einem seltsamen Schwebezustand. Sie fühlte sich nicht direkt bedroht. Bisher hatte der Mann kein einziges Wort ausgesprochen, das aus dem Rahmen fiel. Seine Augen hatten dem Monstrum, das – rein hypothetisch – in seinem Inneren lauerte, keine Sekunde lang einen Blick nach draußen gewährt. Er hatte ihr geholfen. Wenn Isabels Menschenkenntnis ansatzweise funktionierte, dann war er durch und durch harmlos. Es war nicht Jürgen, der sie bedrohte, es war die Situation. Ein Mann und eine Frau an einem Ort, an dem niemand die Frau schreien hören würde. Ein fremder Mann. Ein fremder Ort. Es war eine uralte Sache. Es ging um Vertrauen, aber mehr noch um größere, ältere Dinge.
Um Gewalt. Diese Minuten neben ihm, in diesem rollenden Metallkäfig, hatten ihre Wurzeln tief in einer Zeit, als es noch keine Liebe und keine Regeln gegeben hatte, nur Begehren und Kampf.
Steig niemals zu fremden Männern ins Auto.
„Das ist … eine gute Idee“, brachte Isabel nach einer Weile hervor. „Es ist wirklich sehr spät, und ich könnte eine Mütze Schlaf gebrauchen.“ Sie sprach ihren Text wie eine schlechte Schauspielerin. „Fahren wir zu dem Hotel.“
„Gut“, erwiderte Jürgen. Sie beobachtete ihn ganz genau, aber sie sah keine Regung auf seinem Gesicht. Weder schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen, noch offenbarte er Vorfreude. Oder Unruhe.
Ihr fiel auf, dass das Radio nicht eingeschaltet war. Vielleicht hatte er nach der vielen Musik einfach keine Lust mehr darauf.
„Wir werden noch eine Stunde unterwegs sein“, meinte er. „Wenn du willst, kann ich dir in der Zwischenzeit eine kleine Geschichte erzählen.“
Eine Geschichte. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten?
Er prüfte die Heizleistung mit der Hand, schien damit zufrieden zu sein. „Was ich dir erzählen werde, ist ausgesprochen ungewöhnlich und fantastisch. Fast wie ein Traum. Die beiden Menschen, mit denen ich es bisher geteilt habe, haben mir nicht geglaubt. Aber bei dir ist das anders.“ Er sah zu ihr herüber, seine Blicke von vibrierender Intensität. „Du wirst mir glauben.“
„Was?“ Isabel schluckte. Das klang jetzt wirklich etwas bedrohlich. Aber was wollte er damit eigentlich ausdrücken? „Warum werde ich dir glauben?“ Weil er sie dazu zwingen würde? Oder weil sie Studentin in einer Schule des Okkulten war? Das hatte sie mit keinem Wort erwähnt. Wenn er wusste, wer sie war und was sie tat, bedeutete das, dass er nicht zufällig vor der Haltestelle gestoppt und sie eingeladen hatte. Isabel wurde es heiß, und daran war weder die Heizung noch die Decke schuld.
„Du wirst mir glauben“, sagte er, „weil du es mit eigenen Ohren hören wirst. Das ferne Donnern, meine ich.“
Aha. Was er mit fernem Donnern meinte, blieb ihr schleierhaft, aber vielleicht wusste er doch nichts über Falkengrund. Was für ein merkwürdiges Spiel war dies? Was sollte, was konnte sie noch glauben?
„Die Geschichte handelt von Anna“, begann er. „Ich muss dich warnen.“
Warne mich. Nein, warne mich nicht. Lass mich lieber aussteigen.
„Es gibt eine Menge erotischer Elemente in der Geschichte. Ich hoffe, das stört dich nicht.“
So ein Mist , dachte Isabel und verkrampfte sich unter der Decke. So ein verfluchter Mist!
2. Die Geschichte
Jürgen erzählte.
„Am Anfang, nein, da war nicht Anna, da war Olga.
Olga zog sich durch meine Jugend wie eine Melodie, von der man nur den Anfang hört, diesen aber immer und immer wieder, beim Spielen im Sandkasten aus einem vorüberfahrenden Auto heraus, später in der Turnhalle bei der Aufwärmgymnastik (die der Lehrer launisch abbricht, sobald er den Eindruck hat, es könnte zu viel Spaß machen), dann in der Disco, immer das Lied, das angespielt wird, wenn man rausstürzt, um dem letzten Bus hinterher zu rennen. Verstehst du? So war Olga.
Olga hatte ich oft , aber nie fertig gesehen. Mal verließ sie den Fahrstuhl, wenn ich gerade einstieg. Mal saß sie im Kino neben mir, doch ich erkannte es erst, als die Lichter angingen. Und einmal, als sie als Krankenschwester jobbte – ich schwöre es beim Leben meiner Mutter – da begann sie ihren Dienst an
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