Wände leben - Samhain - Ferner Donner
angeknackst, gebrochen. Nun, sagte Olgas Mutter, habe sie niemanden mehr. Und ob ich Olgas Freund sei. Hoffentlich, fügte sie schnell hinzu, ehe ich antworten konnte, sei Olga nicht schwanger gewesen, als sie …
Manche Menschen denken sehr weit.
Nein, erwiderte ich. Ich sei nicht ihr Freund, mir sei auch nie ein fester Begleiter aufgefallen, und soweit ich das überhaupt beurteilen könne, habe sie kein Kind im Leib getragen. Ob die Frau Mutter vielleicht ein Foto von Olga habe, das sie mir einmal kurz zeigen könne?
Sicher, sagte sie, und sie würde es mir gerne schenken. Sie brachte mir ein kleines Bild von einer Familienfeier, das einen intensiven Grünstich hatte und allem Anschein nach mit einer schlechten Polaroid-Kamera geschossen worden war. Zwanzig Personen hatten sich vor der Außenwand eines Gasthofs aufgestellt, eine davon Olga. Frisur und Statur stimmten, und ich fühlte, dass sie es sein musste, aber ihr Gesicht war so winzig, grün und verschwommen, dass ich keinen Eid darauf hätte ablegen können.
Die Enttäuschung war mir bestimmt anzusehen. Ich ärgerte mich, mehr über mich selbst als über das schlechte Foto. Hatte ich tatsächlich geglaubt, ein Bild in die Hand zu bekommen, auf dem ich sie besser, klarer erkennen konnte als bisher? Hatte ich mir eingebildet, ihre Vergänglichkeit überlisten zu können, ihren Tod?
Nun besaß ich ein Foto mit einer stetigen, einer angehaltenen Olga. Es war so diffus wie die lebendige Olga. Und wertlos. Der Überlistete war ich .
Trotzdem bedankte ich mich, wünschte alles erdenklich Gute. Als ich mich schon zum Gehen wandte, berührte die Hand der kleinen, hageren Frau meinen Ellbogen. Vielleicht solle man so etwas nicht sagen, meinte sie, schon gar nicht zum Abschied, aber … sie frage sich, ob ich wohl wüsste, was Olga gewesen sei.
Was, erwiderte ich verständnislos. Wie – was?
Ein Dämon sei sie gewesen, sagte die Mutter.
Ein Dämon, wiederholte ich.
Freilich, versicherte die Mutter, sei Olga trotzdem ihr kleines Mädchen gewesen, ihr Schatz und ihr liebes Mäuschen. Immer. Und Olgas Vater habe es genauso gehalten, ganz gleich, ob betrunken oder nüchtern.
Ich nickte, verließ das Haus fluchtartig und knüllte dabei das Polaroid-Bild in meiner Tasche zu einem Stück Abfall zusammen, den ich in den nächsten Mülleimer entsorgte. Nur um zehn Schritte später umzukehren, ihn zwischen vollgeschnäuzten Tempos und Folienverpackungen wieder herauszuangeln, abzuwischen, glatt zu streichen und diesmal in der Innentasche meiner Jacke verschwinden zu lassen. Kannst du mir mal eine Cola vom Rücksitz geben? Du darfst dir natürlich auch eine nehmen.“
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Isabel starrte noch eine Weile wie hypnotisiert zur Windschutzscheibe hinaus, wie sie es seit zehn Minuten tat. Als sie kapierte, was Jürgen von ihr wollte, drehte sie sich benommen um. Auf dem Rücksitz lagen zwei 500 ml-Flaschen Sinalco-Cola. Sie reichte ihm eine, zögerte etwas und nahm sich dann die zweite.
Seitdem das Wort „Dämon“ gefallen war, hatte sich etwas in ihrem Kopf verschoben. Ihr gedanklicher Fokus wanderte von ihrer eigenen Situation immer weiter in die Geschichte hinein. Jürgen erzählte auf hohem sprachlichem Niveau, langsam, aber fehlerlos. Beim Erzählen sah er sie nicht an. Er erzählte, als lese er einen Text vom Papier, wirkte hochkonzentriert und stilsicher wie jemand, bei dem das schriftliche Ausformulieren von Fakten und Ideen zum Alltag gehört.
Also war er doch Journalist? Und harmlos?
Oder deutete sein makelloser, stringenter Erzählstil auf etwas ganz anderes hin? Auf eine Besessenheit, eine Fixierung auf eine innere Welt, einen Wahn?
Nur die Fortsetzung der Geschichte konnte diese Fragen beantworten.
Nachdem Jürgen den Flaschenverschluss mit den Zähnen aufgedreht und zwei, drei kräftige Schlucke genommen hatte, fuhr er fort. Seine Sprache wurde noch poetischer, und die Geschichte zog Isabel bereits mit dem allerersten Satz wieder in ihren Bann.
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„Kein halbes Jahr nach Olgas Tod begegnete mir auf einer Geschäftsreise Anna, und eine Handvoll wirrer Sekunden, nachdem meine Blicke sie zum ersten Mal berührt hatten, war sie die Liebe meines Lebens geworden.
Anna saß in der Lobby meines Hotels, einen dunkelbraunen Damenkoffer mit ausgezogenem Griff zwischen den Beinen, den Kopf schräggelegt, die Augen auf die Titelseite der britischen Tageszeitung THE OBSERVER gerichtet, den ein stiernackiger Rothaariger eben auf eines der Tischchen geworfen hatte,
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