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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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als man ihn aufrief. Anna trug ein luftiges weißes Sommerkleid, dessen Rock lang, aber tief geschlitzt war und meinem staunenden Blick nicht nur ihre sonnengebräunten, samtglänzenden Beine enthüllte, sondern sogar einen Fingerbreit eines schneeweißen Slips. Nun pflege ich meine Hormone durchaus unter Kontrolle zu halten und entbrenne nicht zwangsläufig beim Anblick jeder begehrenswerten Frau in unsterblicher Liebe.
    Doch in Annas Fall hatte ich keine Chance. Denn ihre Anmut war es nicht alleine, was mich anzog. Anna war schön, ohne Zweifel, aber nicht wie eine Märchenprinzessin oder ein Dessous-Model, sondern schön, wie viele andere Frauen mit wohlgeformten Körpern und ebenmäßigen Gesichtern es auch waren. Das alleine hätte mir einen kurzen Genießerblick abgenötigt und finito .
    Anna war Olga wie aus dem Gesicht geschnitten.
    Eine Doppelgängerin.
    Eine Melodie schien in dem von hektischen, von müden und von schwatzhaften Menschen angefüllten Raum zu erklingen. Olgas Melodie. Ich stand da und lauschte, indem ich sie ansah. Lange blickte sie in eine andere Richtung und machte es mir damit leicht. Ich spürte weniger Verblüffung als vielmehr Freude und Begeisterung darüber, dass ich Zeit fand, mich der Melodie zu widmen. Denn im Gegensatz zu Olga huschte Anna nicht davon. Sie saß in ihrem Sessel, wartete.
    Das Brünett ihrer Haare war blonder als das von Olga, nur eine Spur allerdings, die Strähnchen nicht vorhanden, und obwohl auch ihr Haar sich aufrollte, wirkten die Kringel in ihrem Fall lockerer, weicher. Auch Augen, Nase, Mund unterschieden sich minimal. Doch sie unterschieden sich so, als wäre Anna tatsächlich Olga, nur in einer anderen Verfassung, einer anderen Stimmung.
    Denkst du, ich hätte der Versuchung widerstehen können, mich ihr zu nähern? Als ich nur noch einen Schritt von ihr entfernt war, fiel mir das Knistern auf. Genau das hatte ich hören wollen!
    Es war noch da, aber verändert. Annas Knistern klang gedämpfter, ihm fehlten die nadelfeinen prickelnden Höhen. Jenes Rumpeln dagegen, das bei Olga kaum hörbar gewesen war, hatte sich verstärkt. Selbst inmitten dieser Geräuschkulisse konnte ich es wahrnehmen.
    ‚Möchten Sie etwas von mir?‘, erkundigte sich Anna.
    Obwohl mein Verhalten die Frage provoziert hatte, lag keine Antwort parat.
    ‚Ah, da kommt mein Zimmerschlüssel‘, sagte sie nach der von mir ungenutzten Pause. Ihre Stimme klang voll, rund und ein wenig dumpf. Mollig, mit abgeschliffenen Kanten. Eine Stimme, bei der man sich fragte, ob man sie streicheln konnte. Tatsächlich brachte ihr ein rot uniformierter junger Mann eine Magnetkarte. Sie erhob sich aus dem tiefen Sessel, drückte dem Bediensteten den Griff ihres Koffers in die Hand und meinte dann, an mich gewandt: ‚Ich heiße Anna. In zwanzig Minuten im Restaurant? Gehen Sie nicht weg, falls ich mich verspäte.‘“
    .
    Jürgen verpasste eine Abfahrt, wendete und korrigierte den Fehler. Kurze Zeit konzentrierte er sich auf die Straße, dann erzählte er weiter.
    .
    „‚Ich mag es, wenn man mich ansieht‘, gestand mir Anna eine halbe Stunde später freiheraus. Verspätet hatte sie sich tatsächlich, doch nur um Minuten. ‚Missverstehen Sie mich nicht – in unserer Welt wird doch das Vorbeisehen kultiviert. Das finden Sie sicher auch traurig, nicht, Jürgen?‘
    ‚Wobei es Menschen gibt, an denen weniger vorbeigesehen werden dürfte als an anderen.‘
    ‚Ach ja?‘ Der Kellner brachte ihr ein Tafelwasser und mir einen Cappuccino. ‚Man kann mich auch anstieren und trotzdem vorbeisehen‘, sinnierte sie. ‚Warum, Jürgen, kommen Sie auf mich zu, beschnuppern mich, belauschen mich, treten mir auf die Zehen, ohne eine schlüssige Anmache in der Hinterhand zu haben?‘
    Das Blut stieg mir in den Kopf. Ich rührte im Kaffee, lachte verlegen, bewegte den Mund zu stummen Satzanfängen. Schließlich griff ich zu meiner Brieftasche.
    Anna schmunzelte amüsiert, als wolle sie sagen: Nee, oder?
    Aber es war keine Banknote, die ich hinblätterte. Plötzlich hatte ich beschlossen, keine Geheimnisse vor ihr zu haben. Mit zitternden Fingern fischte ich ein altes zerknittertes Polaroid-Foto heraus und platzierte es auf dem Tisch. Am peinlichsten war mir, in welchem Gesamtzustand es sich befand, obwohl ich nur für die Falten etwas konnte.
    Annas Augenbrauen hoben sich. Abwechselnd musterte sie das Foto und mich. ‚Sie kennen meine Familie?‘
    Ich schnappte nach Luft und hätte um ein Haar den Cappuccino

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