Wände leben - Samhain - Ferner Donner
Terminkalender, dann ist noch jemand krank geworden, und, und, und … Es ist wieder mal an mir hängengeblieben. Typisch. Mit mir kann man’s machen.“ Er schüttelte grinsend den Kopf. „Aber halb so schlimm – ich fahre gern Auto. Vor allem nachts. He, du schlotterst ja! Ich dreh die Heizung bis zum Anschlag auf. Ach ja, auf dem Rücksitz liegt eine Decke. Die kannst du dir gerne holen. Mach’s dir gemütlich. Die Heizung ist nicht die leistungsfähigste. Alte Kiste.“
Isabel steckte sich nach hinten zwischen den Sitzen durch und nahm sich die rot-blau-karierte Wolldecke. Sie war fusselig, roch aber frisch gewaschen. Jetzt noch eine Tasse heiße Schokolade , dachte sie, und ich fühle mich kuschelwohl. Ja, sie fühlte sich sogar so wohl, dass ihr zunächst gar nicht auffiel, wie still es im Fahrzeug wurde. Die Heizung blies brummend lauwarme Luft in den Wagen. Jürgen war verstummt. Seine Miene hatte sich angespannt, sein Mund war zusammengepresst. Er schien nachzudenken. Ging es um seinen Artikel?
Oder ging es um sie?
Als das Schweigen fünf Minuten dauerte und er zwei zugegebenermaßen uninspirierte Gesprächsversuche von Isabels Seite einfach unbeantwortet gelassen hatte, hielt sie es nicht mehr aus. „Was ist los?“, fragte sie. „Gibt es ein Problem?“
„Was? – Nein, kein Problem.“ Der Regen war etwas schwächer geworden. Auf der kerzengeraden Alleenstraße war außer ihnen kein Fahrzeug unterwegs. „Weißt du, mir ist nur eben ein Gedanke gekommen, aber …“
Wieder Schweigen. Isabel wartete. „Und?“, fragte sie dann.
„Du würdest es missverstehen.“
Aha. Jetzt kam es. Das dicke Ende. Mach’s dir gemütlich. Ich fahre gern Auto. Vor allem nachts. Mit einer hübschen Beifahrerin.
Den letzten Satz hatte er nicht gesagt. Noch nicht.
„Hast du eine Fahrkarte für den Zug?“, wollte er wissen.
„Hab ich“, log Isabel. In Wirklichkeit hatte sie absichtlich keine gekauft, denn sie war ziemlich knapp bei Kasse und hatte gehofft, sie würde auf dem Konzert vielleicht jemanden finden, der aus ihrer Nähe kam und dem sie sich anschließen konnte. Eine Frau natürlich. Ein paar Mädchen vielleicht. Aber es hatte sich nichts ergeben. Außer Jürgen, dem Reporter, in dessen Wagen sie nun saß. In dessen Decke sie sich gewickelt hatte. Herrgott, und er hatte so sympathisch ausgesehen. Sah eigentlich immer noch sympathisch aus.
„Ach so“, erwiderte er. „Super.“ Nach einer langen Pause fügte er hinzu: „Sonst hätte ich dir ein Angebot gemacht. Wie gesagt, du darfst es nicht missverstehen.“
Keine Sorge , dachte Isabel. Ich habe es bereits verstanden. Aber wie komm‘ ich hier raus bei 90 Stundenkilometern?
„Ich fahre nicht ganz bis nach Hause“, erklärte er. „Das wäre mir jetzt zu weit. Ich bin … ziemlich müde. Ein Stück hinter Weimar gibt es ein kleines Hotel. Dort, äh, war ich schon öfter. Es ist sehr günstig, und ich kriege noch Rabatt. Man kann auch so spät noch einchecken. Wenn du möchtest … ich meine … Du kriegst in Leipzig heute sowieso keinen Zug mehr nach Stuttgart, oder?“
„Ich warte, bis es Morgen ist.“
„Ja, sicher.“ Wieder eine Pause. „Ich rede natürlich von zwei Einzelzimmern.“
Natürlich.
„Und morgen fahr ich dich nach Hause. Du kannst deine Fahrkarte zurückgeben. Ich wohne in Tübingen, aber es wäre kein großes Ding, dich nach Wolfach zu fahren, wenn du das willst.“
Sie wusste, was sie wollte und nicht wollte. Sie wusste nur nicht, wie sie es ihm beibringen sollte. Wahrscheinlich würde er keine Schwierigkeiten machen, wenn sie höflich, aber bestimmt ablehnte. Vielleicht war er scharf auf sie, aber nach wie vor machte er keinen brutalen oder irren Eindruck.
Aber schrieben sie das nicht immer über die Lustmörder? So ruhig, so schüchtern, so unauffällig, so normal. Keinem ist was aufgefallen. Wir sind schockiert, fallen aus allen Wolken. Das hätten wir nie von ihm gedacht.
Andererseits …
In einem Hotel gab es Menschen, mindestens jemanden vom Personal. Falls er ihr im Hotel zu nahe kam, konnte sie immer noch schreien, wegrennen, jemanden holen. Und Hoteltüren ließen sich abschließen, und falls nicht, dann konnte man sie wenigstens verrammeln. Hier draußen dagegen, auf der Landstraße, in seinem Auto war sie vollkommen schutzlos.
Wenn sie ablehnte, würde er dann nicht in den nächsten Feldweg einbiegen und den Wagen in ein Waldstück lenken? Im Gegensatz zu ihrer Zimmergenossin Madoka beherrschte
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