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Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Wände leben - Samhain - Ferner Donner

Titel: Wände leben - Samhain - Ferner Donner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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meinem Entlassungstag. Hätte ich es geahnt, es hätte tausend schöne schmerzhafte Möglichkeiten gegeben, meine Heilung nach der Mandel-OP hinauszuzögern.
    Olga trug langes, dunkles Haar mit echten Strähnchen darin, Haar, das sich nach innen zu großen, glatten Spiralen zu rollen versuchte, wie ich es nie bei einer anderen gesehen hatte. Ihre Augen schimmerten in der Farbe frisch gefallener Haselnüsse. Insgesamt strahlte Olga eine innere Wärme aus, unter der selbst eine Winternacht zerflossen wäre. Was Olga aber richtig wundervoll machte, das war ihr Knistern, ein Knistern wie beim Öffnen eines Geschenks.
    Wenn sie vorüberging, knirschte die Luft, und in ihrem Gefolge kam ein ungreifbares leises Rumpeln, als würde in diesem Moment irgendwo im fernen Himalaja ein Gewitter brausen, ausgelöst von ihr. Ihr Knistern ließ Körperhärchen zitternd aufstehen, ein einzigartiges Gefühl, und jederzeit reproduzierbar, wenn ich auch nur flüchtig an sie dachte. Dazu das ferne Rumpeln knapp über der Hörschwelle – es drang in meinen Magen und sickerte von dort aus abwärts.
    Dass ich Olga nur für Augenblicke begegnete, ließ ihren Wert ins Unendliche steigen. Es gab so wenig von ihr. Sie war das Gold und das Platin meiner Jugend. Irgendwann wollte ich sie fertig anschauen, wie man ein Lied vom ersten Ton des Vorspiels bis zum Verklingen des letzten Schlussakkords anhört, entspannt, alleine, ungestört. Hätte ich sie nicht einfach ansprechen können? Ich hätte, wäre sie nicht stets so fix von der Bildfläche verschwunden. Ihre Flüchtigkeit gab meinem Mut keine Zeit, sich zu entwickeln.
    Obwohl meine wahren Wünsche unerfüllt blieben, war es eine schöne Zeit mit diesem winzigen Schuss Olga.
    Doch schließlich erfuhr ich, was Flüchtigkeit wirklich war.
    Denn Olga starb jung.
    Meine zauberhafte, warme, knisternde Olga verklang. Ihre Todesart wurde ihr gerecht: Einmal zu oft war sie zu eilig über die Straße gehuscht, geschlittert beinahe, in die Grünphasen der Autos hinein. Grün-gelb-rot-rotgelb-grün muss das Licht der Ampeln ihr lebloses Gesicht beleuchtet haben. Gesehen habe ich es nicht.
    Als der Bäcker mir davon berichtete, endete meine Jugend. Ein Kapitel war abgeschlossen.
    Noch am selben Tag machte ich mich auf die Suche nach Erinnerungsstücken. Andenken an Olga. Vor allem suchte ich Fotos von ihr, doch es gab keine. Viele Leute konnten sich ihrer entsinnen, viel mehr Leute, als ich erwartet hatte. Wenn sie tatsächlich eine Melodie gewesen wäre, hätte die gesamte Stadt sie summen können, von den rotznasigen, immerzu Fußball spielenden Jungen bis hin zu den Alten in ihren stickigen Zimmern. Viele kannten sie, ihnen allen war sie erschienen wie ein Gespenst, doch niemand wusste etwas Konkretes über sie.
    Drei Wochen brauchte ich, um ihre Wohnung zu finden. Ich bin kein Einbrecher, wirklich nicht! Ich habe so etwas vorher oder nachher nie getan. Die Hausherrin hatte das Fenster geöffnet, sicher in der Absicht, den letzten Geruch ihrer Mieterin zu vertreiben, nachdem sie Olgas Habe bereits weggeschafft hatte. Ich an ihrer Stelle hätte noch das letzte Stäubchen, das die Arme berührt haben mochte, aufgesammelt und für die Ewigkeit konserviert.
    Im Zimmer fand ich fast nichts, nur eine Haarnadel, die die Hausherrin übersehen haben musste, eingeklemmt zwischen zwei Dielen, das spitze Ende nach oben, und ganz hinten auf einem Regalbrett ihres Kleiderschranks einen zerknitterten Zettel.
    ‚Mutti + Vati‘ stand darauf. ‚Vati‘ war mit einem wilden Linienknäuel fast unkenntlich gemacht, ‚Mutti‘ dreimal unterstrichen. Es folgte eine Adresse.
    Ich nahm den Schatz an mich und verließ die Wohnung.
    Die Adresse von Olgas Eltern musste einen Monat lang in einem eigenen Fach meines Geldbeutels reifen, ehe ich so kühn war, die fünfzig Kilometer dorthin zurückzulegen. Die unterstrichene Mutti und der zerkritzelte Vati mochten Zeit brauchen, um den Tod ihrer Tochter zu verarbeiten. Von mir jedenfalls sollten sie es nicht erfahren.
    Ich fasse mich kurz, sonst hältst du mich am Ende noch für ein Hörbuch: Olgas Mutter wusste natürlich, dass ihre Tochter verunglückt war, ihre einzige Tochter, wie sie zu betonen nicht müde wurde. Merk dir dieses Detail, es wird später einmal wichtig werden. Der Vater war vor einem Jahr verstorben. Bei einer Prügelei in einer Kneipe gestoßen worden. Unglücklich gefallen. Sein Schädel, so versicherte mir seine Frau, sei gebrochen gewesen. Nicht

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