Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)
hundert Meter vor dem Gipfel aus einer Spitzkehre um die Kurve komme, eine Gruppe herumlungernder Jugendlicher.
Selbstverständlich erfasse ich die Situation sofort: Rhönräuber! Was sonst? Hier, am neunten Gipfel, fast am Ende der «Schönheiten-der-Rhön-Tour», lauern sie den völlig entkräfteten Radtouristen auf. Da soll noch einer sagen, die Jugend interessiere sich nicht für Geschichte.
Ich könnte umdrehen und warten, bis sie weg sind. Aber dann müsste ich den Berg noch mal rauf, und woher soll ich wissen, wie lange ich zu warten hätte. Natürlich könnte ich um den Berg fahren, aber das ist sehr weit, und außerdem müsste ich, wenn ich um diesen Berg herumfahre, dafür dann wieder über drei andere Hügel. Da mach ich sogar noch minus. Denke schließlich: Kommt alles nicht in Frage, immerhin bin ich aus Berlin, ich geh im Dunkeln durch den Wedding und singe dazu evangelische Antidrogensongs, wenn es sein muss. Da werd ich doch auch an einem viel zu heißen Tag über einen Rhönhügel fahren können.
Versuche, so cool zu wirken, wie ich nur eben kann.
Ich weiß nicht, wer schon einmal versucht hat, cool zu wirken, wenn er gerade in einem Tempo von circa 3 , 5 bis 3 , 6 Stundenkilometern, aber trotzdem schwer tretend, keuchend und hustend, extrem durstig und über und über mit Schweiß bedeckt einen Berg hochgefahren kommt. Es ist wirklich nicht einfach. Zumal, wenn einem der Schweiß auch noch in Rinnsalen direkt von der Stirn in die Augen läuft, wodurch der Kopf nicht nur knallrot mit hervorstehenden Adern leuchtet, sondern es auch noch aussieht, als würde man gerade weinen.
Die Jungs haben mich entdeckt. Einer sagt: «Cooles Fahrrad.»
«Ihr wollt mein Fahrrad klauen?»
«Was? Wieso das denn? Hör mal, hier sind überall Berge, weißt du, wie anstrengend das wäre, hier mit dem Fahrrad rumzufahren?»
Versuche, etwas unauffälliger zu schwitzen und zu tropfen. Sehe, wenn auch nur verschwommen, wie sich einer der Jugendlichen zum Hinterrad runterbeugt und den äußerst kryptischen Satz sagt: «Das hintere Ritzel klemmt. Boarh, mit einer so beschissen eingestellten Schaltung muss es unglaublich anstrengend sein, die Berge hier raufzukommen.»
Antworte gefasst: «Ach, das geht schon. Weißte, ich bin Extremsportler.»
«Echt? Wir dachten, Sie gehören zur anderen Gruppe der Leute, die hier hochfährt.»
Alle lachen, aber nicht blöd, irgendwie sind sie sogar richtig nett.
«Das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber für einen Moment dachte ich, ihr wärt Rhönräuber.»
«Rhönräuber? Quatsch, das wäre doch viel zu viel Stress. Wir sind Dienstleister. Viele der Touristen, die diese ‹Schönheiten-der-Rhön-Tour› fahren, nehmen einfach zu wenig Wasser mit. Und hier oben gibt’s ja nichts. Die sind oft froh, wenn sie hier nach dem Anstieg was bekommen.»
«Ihr habt Wasser?»
Er strahlt. «Eisgekühlt!»
Er holt eine Halbliterflasche aus der mobilen Kühltruhe, die neben seinem Motorroller im Schatten steht. Jetzt strahle ich auch. «Oahh, großartig! Ein Wunder! Meine Rettung! Ich würde alles für diese Flasche Wasser geben.»
Er grinst. «Das trifft sich gut. Kostet nämlich fünf Euro.»
Auch wenn es Rhönräuber heute im engeren Sinne nicht mehr gibt, die Tradition, sich die Berge intelligent und zivilisiert zunutze zu machen, ist hier wie andernorts lebendiger denn je. Schön zu wissen.
Der flinke Kalle
Der flinke Kalle, genannt «die Handtasche», ist der wohl beste und professionellste Handtaschendieb in der Geschichte Berlins. Wie alle wirklich großen Ganoven hat er nicht einfach nur geklaut. Nein, der Diebstahl einer Handtasche war bei ihm ein kleines Kunstwerk. Eine artistische Meisterleistung in atemberaubender Geschwindigkeit.
Zumeist entriss er am Beginn einer langen Geraden die Handtasche, rannte dann mit ihr in wahnsinnigem Tempo davon, untersuchte aber während des Laufens bereits den gesamten Inhalt, nahm das Geld raus und warf die Tasche noch in Sichtweite des Opfers ins Gebüsch. So konnten die Bestohlenen die Tasche gleich wieder an sich nehmen. Außer Geld fehlte praktisch nichts. Lästige Ämtergänge oder EC -Karten-Sperrungen entfielen. Der Diebstahl war so kundenfreundlich wie möglich abgewickelt. Ohne unnötigen Aufwand für das Opfer blieb der ganze Vorgang im Großen und Ganzen angenehm unbürokratisch. Oder, wie der flinke Kalle immer sagte: «Wenn die Leute schon beklaut werden, sollen sie nicht auch noch unnützen Ärger haben!»
Nicht
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