Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)
wenige der Opfer, in den allermeisten Fällen Frauen, waren oftmals regelrecht verzückt. So schnell wie dieser Mann hatte sich noch nie jemand in ihrer völlig überfüllten Handtasche zurechtgefunden. Nicht einmal sie selbst. Dafür höchsten Respekt. Also, diesen Herrn hätten sie wirklich nur zu gern einmal kennengelernt. Doch zunehmendes Alter und seltsame neue Moden machten Kalle zu schaffen. Und eines Tages unterlief ihm ein Missgeschick, das seine aktive Karriere abrupt beendete.
Wie immer ging alles ganz schnell. Er hatte gerade der jungen Frau die Handtasche entrissen und wühlte in vollem Lauf nach dem Geld – da biss ihn die Handtasche plötzlich in den Finger. Zudem war sie offensichtlich mit einem sehr aggressiven Läuse- oder Flohpulver eingerieben. Vielleicht war es aber auch ein absurdes Parfüm, in jedem Fall ließ diese Substanz seine Hände schnell rot anschwellen.
Die juvenile Dame, der er versehentlich – wie ihm jetzt dämmerte – nicht die Handtasche, sondern eines dieser, einer Fellhandtasche wirklich nicht unähnlichen, Accessoire-Hündchen entrissen hatte, schrie in derselben Tonlage wie das entwendete Tier. Dies veranlasste Kalle, den Hund im hohen Bogen wegzuwerfen.
Kurze Zeit später schwor er deprimiert dem gesamten Diebstahlwesen ab und begann eine neue, steile Karriere als Handtaschendesigner. Ein Beruf, der ihm in der zweiten Lebenshälfte großen inneren Frieden bescherte, bis ihn der beste und professionellste Safeknacker Berlins, Otto «der weiche Keks» Stark, mit dem niedersächsischen Ex-Kammerjäger Georg Wolters bekannt machte, welcher wiederum den Plan hatte, eine Art «Avengers»-Team aus Berliner Kriminellen zusammenzustellen. Doch das ist eine ganz andere Geschichte.
Das Hündchen hingegen, mit seinem aggressiven Läusepulver oder Parfüm, landete direkt nach dem hohen Flug auf einem Balkon im ersten Stock, gelangte durch die offene Balkontür auf eine sich dem Ende zuneigende Party, fand einen in Kartoffelsalat schlafenden Mann, schleckte ihm den Rücken sauber und malte somit quasi eine Langzeitwetterprognose in indianischer Sprache auf seinen Rücken. Doch das sollte dieser Mann nie erfahren.
Sitzgeschwindigkeit
Werner Mersching wohnt in Nordholz bei Cuxhaven. In Nordholz braucht jeder ein Auto. Die Wege sind weit, es gibt praktisch keinen öffentlichen Nahverkehr, man macht dort alles mit dem Wagen. Erst recht Werner Mersching. Seit über dreißig Jahren hat er auch auf keinem Fahrrad mehr gesessen. Aber so etwas verlernt man ja nicht. Deshalb hat Werner Mersching wohl grundsätzlich keine Bedenken, als er sich nach dieser langen Zeit zum ersten Mal wieder auf einen Drahtesel schwingt.
Wenngleich es natürlich sehr ungewohnt für ihn ist. Allein schon vom Fahrrad her. In der Fahrradtechnologie hat sich einiges getan in diesen dreißig Jahren. Das Fahrrad, das man ihm jetzt gegeben hat, fühlt sich gänzlich anders an als sein Fahrrad im Jahre 1982 . Und auch sein Körper fühlt sich ganz, ganz anders an. Schon als er aufsteigt, bemerkt er, dass sich sein Körperschwerpunkt in den letzten dreißig Jahren verschoben hat. Sogar mächtig verschoben hat. Genaugenommen ist sein ganzer Körper mittlerweile ein einziger Schwerpunkt. Deshalb fährt er auch eher unsicher, also sehr langsam und wacklig mit diesem ungewohnten Fahrrad. Sogar extrem langsam, quasi in Sitzgeschwindigkeit.
Aber gut, irgendwie und irgendwo muss er schließlich wieder anfangen, sich ans Fahrradfahren zu gewöhnen. Das ist ja selbstverständlich, wer könnte etwas dagegen sagen? Dennoch bleibt für mich die Frage: Warum bitte muss Werner Mersching seine erste Fahrradtour nach über dreißig Jahren unbedingt mit zwanzig anderen Menschen machen, die seit rund dreißig Jahren auf keinem Fahrrad mehr gesessen haben? Und warum ausgerechnet in der Innenstadt von Berlin? Als geführte Fahrradtour? Im nachmittäglichen Stoßverkehr? Und als ob es nicht schon reichen würde, mit dem Verkehr und dem Fahrrad völlig überfordert zu sein, hat er auch noch das erklärte Ziel, sich während der Fahrt die Stadt anzugucken, dem Fahrradführer zuzuhören und sich ausgiebig mit den Freunden zu unterhalten. Über die Welt im Allgemeinen und Berlin im Besonderen, also wie groß, unübersichtlich und hektisch diese Stadt doch sei und dass hier ja wohl niemand die nötige Ruhe und Zeit habe. Die armen Menschen, so gehetzt, und alle, deren Weg er kreuze, würden böse oder genervt gucken. Seines Erachtens tue diese
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