Wärst du doch hier
wie Tom Luxton gestorben sei, noch wofür, dies sei nicht die Gelegenheit dafür, andere hätten darüber gesprochen oder würden noch darüber sprechen. Aber der, an den er sich erinnern wolle, wie andere sich mit Gewissheit auch erinnern wollten – und viele auch wirklich
konnten
–, das war »der Junge aus Marleston«.
Das hatte Brookes gesagt: »Der Junge aus Marleston«. Dabei hätte er auch sagen können (und Jack wusste, warum er das nicht getan hatte): Der Junge von der Jebb Farm. Das wäre nämlich nicht die Wahrheit gewesen. Es war auch nicht die Wahrheit, dass Tom in Marleston geboren worden war. Wusste Brookes das nicht? Er war auf einer Entbindungsstation in Barnstaple zur Welt gekommen. Und hätte seine Mutter beinahe dabei umgebracht. Jack war derjenige, der in Marleston geboren war, Jack war auf der Jebb Farm auf die Welt gekommen. Eigentlich war Jack der Junge –
Aber Jack verstand, was Brookes meinte. Er hatte die Medaille in der Tasche seines Jacketts. Es war ihm jetzt nicht verständlicher, warum er sie mitgebracht hatte, falls er es denn überhaupt gewusst hatte, den ganzen Weg hierher. Es war nicht Toms Medaille. Sie gehörte zu einem der Namen draußen auf dem Kriegerdenkmal – man könnte auch sagen, zu zwei der Namen. Aber während Brookes sprach, ging seine Hand zu der kleinen runden Marke an seiner Brust.
Dann hörte Brookes auf zu sprechen, es ging mit einem Lied und ein, zwei Gebeten weiter, und dann war dieser Teil vorbei, und das, was für Jack das Wichtigste war, weswegen er in Wirklichkeit hier war, begann. Jetzt musste er nach vorn gehen, zusammen mit den fünf Männern, denen er die Hand geschüttelt hatte, und ihr Anführer sein, obwohl die fünf es gewissermaßen waren, die ihn trugen. So wie sie alle zusammen Tom tragen würden. Er müsste neben Ireton, mit Tom zwischen ihnen, gehen und auf die Gemeinde zugehen, auf alle hier Versammelten, aber er würde es schaffen, wenn er nicht lächelteund wenn er niemandem in die Augen sah. Das hier war ja keine Hochzeit. Er würde es schaffen, wenn er gar keinen Ausdruck in sein Gesicht legte, was ja von Natur her seine Art war. Er müsste so sein wie einer der sechs Soldaten gestern und gleichzeitig nicht so. Ihnen hätte er auch die Hände schütteln sollen. Er musste eine bestimmte Anzahl von Schritten zurücklegen, obwohl er sie nicht zählen würde, seine Wange am Sarg, seine Schulter am Sarg, Teile seines Körpers, die Tom so nah sein würden wie nie wieder, und die sein Gewicht spüren und mit den anderen teilen würden.
Und so war es auch. Sie traten unter dem Vordach in die schmerzliche Helligkeit des Novembermorgens hinaus. Hinter ihnen verließ jetzt auch die Gemeinde die Kirche und folgte ihnen, aber es war so, dachte Jack, als hätte sich die Kirche in das große graue Flugzeug mit dem leeren Rumpf verwandelt. Zum ersten Mal sah Jack jetzt, da er direkt nach vorn blickte, die präzise Linie der Hügel jenseits des Tals – Dartmoor in der Ferne –, wie man sie auch von der Jebb Farm sehen konnte.
Sie war nicht schwierig, die körperliche Aufgabe, so schwierig war sie nicht. Ireton war auch groß. Möglicherweise verlagerte sich das Gewicht nach hinten, was es den beiden Trägern am Ende des Sargs schwer machen würde. Doch dann wurde das durch den abschüssigen Weg auf dem Friedhof ausgeglichen. Und der Sarg war nicht schwer. Obwohl Tom ja, wie sein Bruder, ein kräftiger Mann gewesen war. Lag es daran, dass das Gewicht auf sechs verteilt war? Oder woran …? Was war in dem Sarg? Er wusste, wie seine Mutter gestorben war, er wusste, wie sein Vater gestorben war. Aber der Tod seinesBruders war ein Geheimnis. Plötzlich wollte er das Gewicht seines Bruders spüren, er brauchte das. Er dachte, wenn er seine Wange und seine Handfläche an das Holz presste, würde er Tom dazu drängen, ihn sein Gewicht spüren zu lassen.
Jetzt waren es vielleicht noch zwanzig Schritte, eine allmählich abnehmende Anzahl von Schritten. Jack sah vor sich die ausgehobene Grube, sah daneben – wollte aber nicht hingucken und die Namen lesen – die Grabsteine seiner Eltern, und jetzt, doch, jetzt war er sich sicher, dass er bei diesen letzten Schritten durch das Holz, durch seine Wange, durch seine Hand das schwankende, sich bewegende, deutliche Gewicht seines Bruders im Sarg spürte. So würde er es schaffen, dachte er beruhigt, solange das Gewicht auf seiner Schulter ruhte. Er wollte, dass es immer dort bliebe. Und
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