Wärst du doch hier
Bob Ireton? Immer noch der Ortspolizist? Das ganze dumme Dorf würde da sein – halb vergessene und schwach erinnerte Gesichter blitzten vor ihm auf wie Glühbirnen –, aber womöglich war auch, da die Geschichte auf der Titelseite der Zeitungen gestanden hatte, der Rest der Welt da.
Außer mit Brookes, Babbages und Major Richards, sowie ein paar anderen, die notwendigerweise beteiligt waren, hatte Jack in den letzten Tagen auch mit einer ganzen Reihe von Leuten sprechen müssen – oder war einem Gespräch aus dem Weg gegangen –, die mit ihm sprechenwollten. Die meisten hatten von ihm wissen wollen, wie es ihm gehe und welche Gefühle er in diesem Moment habe, und hatten ihm den Eindruck vermittelt, dass er sich glücklich schätzen könne, einen Zuhörer gefunden zu haben. Bei diesen Menschen hatte Jack das Wort »privat« benutzt, das ihn angeblich freistellte, aber es hatte nicht immer seine Wirkung getan, sodass er sich statt dessen zu einer Vermeidungsstrategie entschlossen hatte, die er aber als beschämend empfunden hatte, und, ja, als Vermeidung. Bei der Zeremonie gestern hatte er die Reporter (ihre Anwesenheit, in einem eigenen Grüppchen, war ihm aufgefallen) mit Erfolg gemieden. Er hatte sie alle gemieden. Aber jetzt, da er sich seinem endgültigen Bestimmungsort näherte, hatte er wie schon zuvor das Gefühl, gleich verhaftet zu werden.
Ireton, ja, Ireton würde da sein. Mit einem Paar Handschellen. Nach der Beisetzung und allem, was dazugehörte, würde er vielleicht sagen: »Gut, Jack, jetzt komm mal mit.«
Je näher er seinem Ziel kam, desto überlegter plante er bereits seine Flucht. Zu diesem Zeitpunkt, da sein Mobiltelefon noch ausgestellt war, wusste niemand genau, wo er war oder ob er erscheinen würde. Und schon gar nicht, wie es ihm ging. Viertel nach zehn. Und wegfahren könnte er – wann? Wenn ihm schon nicht die Immunität der Privatsphäre zugestanden wurde, so galt für ihn doch der Schutz, das Alibi der Trauer.
Seine Furcht vor dem beklemmenden Ablauf des bevorstehenden Ereignisses war größer als alles andere, und er hoffte, wie ein Schatten durch sie hindurchgleiten zu können – da und doch nicht da. Wer konnte an seineSituation herankommen? Seine geballte Situation. Erst das, dann dies. Er wäre der Unberührbare. Er wäre – und was könnte angemessener sein und die Situation besser zusammenfassen? – wie die Leiche, die er dennoch auf seiner Schulter zu tragen hatte. So fühlte er sich.
Und vielleicht, weil er es sich so sehr wünschte oder weil er, als es so weit war, von der ganzen Angelegenheit schlicht und einfach bis zur Hilflosigkeit verwirrt und verstört war, geschah es dann genau so.
Er bog in eine schmale Nebenstraße ein (von damals kannte er noch den efeubewachsenen Baumstumpf an der Ecke) und hatte das Gefühl, die Sache sei ihm aus der Hand genommen. Es schien ihm unmöglich, dass die vertrauten Anblicke, die sich um ihn mehrten, immer noch da waren, oder aber es war unmöglich, dass er je weg gewesen war. Er ergab sich ihrer hinterlistigen Attacke. Das befremdliche Wort »Repatriierung« kam ihm wieder in den Sinn. Und er sagte abermals: »Ich bin auf dem Weg, Tom. Ich bin schon fast da.«
Und dann war er da. Nach ein paar Biegungen wurden aus den schmalen Sträßchen die einspurigen tiefliegenden Feldwege, an die er sich erinnerte. Im Sommer wuchs in der Mitte der Fahrspur Gras. Er hatte eine Route gewählt, auf der er Marleston nicht von Osten her – und an der Jebb Farm vorbei – erreichte, doch als er zu einer Anhöhe kam, erspähte er durch ein Gatter hindurch und quer über das Tal hinweg, in dem sowohl die Westcott Farm als auch die Jebb Farm lagen, die Kirchturmspitze von Marleston. Dann, nachdem er bisher, seit er von der Hauptstraße abgefahren war, auf kein Hindernisgestoßen war, fand er vor sich plötzlich nicht nur ein, sondern zwei, drei, vier – oder sogar mehr – Autos, die alle in dieselbe Richtung fuhren, erfasste sofort, wohin sie wollten, und begriff zudem, was das über die Größe der Trauergemeinde bei diesem sehr privaten Ereignis aussagte.
Er war jetzt Teil einer allgemeinen, langsam kriechenden Schlange auf einer verstopften Straße, als wäre er nichts weiter als ein frustrierter unwichtiger Teilnehmer bei der in Kürze beginnenden Zeremonie. Alle seine Befürchtungen kehrten sich auf der Stelle in heiße Empörung, die nach außen hin nur der selbstgerechte Zorn eines Autofahrers
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