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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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seine Grenzen, und Ellie hat das Gefühl, dass sie mit Jack   – oder wer immer dieser Mann ist, da oben, in diesem unsichtbaren Cottage   – an ihre Grenzen gekommen ist. Vielleicht wird sie sich im nächsten Moment von ihm abwenden, so wie sie sich nie von ihrem Vater abgewendet hatte. Und auch nie zuvor von Jack.
    Aber jetzt sitzt sie hier, in dieser Haltebucht, und rührt sich nicht vom Fleck, keine Meile von ihrem Haus entfernt und (an jedem normalen Tag) in Sichtweise davon. Und es war nicht das Unwetter, das sie zum Anhalten veranlasst hatte, auch nicht der sie verfolgende Geist ihrer Mutter, dem sie nun doch keinen Besuch abgestattet hatte, sondern das plötzlich klar aufscheinende Bildvon sich selbst an einem anderen Tag, als sie wie wild gefahren war, durch den ruhigen, goldenen Sonnenschein eines Nachmittags Ende September.
     
    Kaum sechzehn war sie damals, aber sie wusste mit einem Land Rover umzugehen. Auch wenn es ihr nicht erlaubt und dem Gesetz nach sogar verboten war, damit auf öffentlichen Straßen zu fahren. Trotzdem, am dritten Tag nach dem Verschwinden ihrer Mutter, als ihr Vater sich morgens, wie es schien, entschlossen der Flasche zugewandt hatte, war sie mit den Schlüsseln in der Hand zu dem uralten Wagen, der auf dem Hof stand, gegangen hatte sich reingesetzt und war, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Feldweg entlang zum Tor gefahren, auf die Straße hinaus und immer weiter. Eigentlich ohne die Absicht zurückzukommen.
    Es war keine geplante Flucht. Sie hatte nichts mitgenommen, aber allein durch das Fahren, durch das vertraute Knacken des Schalthebels neben sich und den lehmverkrusteten Pedalen unter ihren Füßen war in ihr der überwältigende Wunsch nach Freiheit aufgestiegen. Oder jedenfalls war sie plötzlich von reiner, unbändiger Freude darüber erfüllt, dass sie mit dem Auto auf der Straße war und ihre Fahrkünste ausprobierte. Geschickt wich sie anderen Autos aus, bog irgendwo ab und merkte auf den engen Straßen schnell, dass sie bei entgegenkommendem Verkehr wendig, ja, sogar aggressiv manövrierte, wenn einer von beiden anhalten musste, um den anderen vorbeizulassen. Wenn sie mit diesem Land Rover über einen matschigen Acker fahren, auf dem Hof verzwickte Wendemanöver vollführen oder über einenvon Spurrillen gefurchten Feldweg rumpeln konnte, dann konnte sie ihn auch auf einer asphaltierten Straße fahren.
    Die Sonne des Frühherbsttages erfüllte die Luft und durchströmte die Hecken voller Beeren. Sie hatte das Fenster runtergekurbelt, ihr Haar flog im Fahrtwind. Der Tank war voll. Ellie sieht jetzt noch ihre bloßen Knie vor sich, die Bewegung, während die Füße die Pedale bedienten, darüber ihr kurzer rauchblauer Kordrock, kaum mehr als ein Band aus geripptem Stoff   – es war 1983.
    Damals fing sie an zu lachen und zu singen   – Songs von Duran Duran. Glänzte ihr Gesicht dabei von Tränen? War der alte Land Rover jemals so herumgejagt worden? Beim Fahren kam ihr so etwas wie ein Plan in den Sinn, ein Vorhaben. Wo immer ihre Fahrt hinführte (falls sie irgendwo hinführte), sie konnte sie nicht allein machen. Anders gesagt, sie konnte ihre Freunde nicht zurücklassen, ohne ihnen wenigstens zu sagen, dass sie dabei war wegzurennen, und ihnen die Gelegenheit zum Mitkommen zu geben. Hinten war viel Platz.
    Sie erwog, Linda Fairchild und Susie Mitchelmore in Marleston einzuladen, sowie Jackie White in Polstowe und Michelle Hannaford in Leke Hill. Sie zu befreien. Halten mit quietschenden Bremsen, lautes Hupen. Schnell! Ich bin’s, Ellie! Steigt ein! Sie überlegte, zu der Bushaltestelle bei Abbot’s Green zu fahren, wo viel ausgeheckt und besprochen wurde, wo viel gekichert, aber wenig bewerkstelligt wurde, und eine rotzige Abschiedsnachricht an die Wand zu schmieren. Sie könnte die ganze Bande aus Abbot’s Green aufladen und sagen: »Auf geht’s!« Die Chancen, dass die Polizei vorbeikam, standen eins zuhundert. Und sie würde sogar   – war doch gelacht!   – Bob Iretons mürrische Schwester Gillian mitnehmen   – Bob, der zur Polizei gehen wollte.
    Das Ganze war wie ein grandioses Netz   – ein Netz zur Befreiung   –, das sie aus ihren dahinrasenden Gedanken auswarf. Sie würde jeden, der mitmachen wollte, einfangen. Auch Jungen, ja, Jungen auch. Aber irgendwo in dem Rausch ihrer Gedanken   – sie war gerade am Polstowe Hill   – beruhigte sie sich (einigermaßen) und wusste, was sie zu tun hatte.
    Gab es überhaupt eine andere

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