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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Möglichkeit? Und es wäre nicht nur ein Befreiungsschlag. Es wäre eine Probe. Eine Probe für sie selbst. Könnte sie das? Würde sie das tun? Sie bremste und wendete schwungvoll an einem Gatter, wobei der Auspuff eine zufriedenstellend schwarze Wolke ausstieß. Überall diese Gatter. Diese verdammten Gatter. Jemand hupte sie an. Sie hupte zurück. Wieder raste sie durch Polstowe. Inzwischen mussten die Leute sie bemerkt haben. Es war mindestens das dritte Mal. Das war doch der Land Rover von Jimmy Merrick, oder? Aber er saß nicht am Steuer!
    Sie fuhr so schnell es ging zurück nach Marleston. Würde sie es wirklich tun? Sie konnte sich sehen, wie sie es tat, das ja. Sie sieht sich jetzt, wie sie es tut, als bestünde die Notwendigkeit noch. Sie sieht, wie sie am Gatter zur Jebb Farm hält und es öffnet. Sieht, wie sie reinfährt und nicht wieder hält, um es zu schließen. Mein Gott, das hat sie noch nie gemacht. Sie sieht sich auf den Hof der Jebb Farm brausen und mit einer Vollbremsung halten, die Hand auf der Hupe. Schwer zu raten, wo auf der Farm Jack mitten am Tag sein würde, aber in ihrerVorstellung traf es sich so, dass er in der Nähe des Hauses war. Und er hatte diesen Meteor die Zufahrt entlang brausen hören.
    Sie sieht, wie die Familie auf den Hof kommt und ihre erstaunliche Ankunft miterlebt. Michael. Vera. Da gibt es ein Problem, das weiß sie   – Jack von seiner Mum wegzureißen. Und neben Vera steht der kleine Tom, sieben Jahre alt. Ein weiteres Problem   – und das wird es immer bleiben. Aber für sie zählt nur Jack. Mein Jack.
    Und da ist er. Sie sieht ihn an, er sieht sie an, Verwunderung zeichnet sich auf seinem meist undurchdringlichen Gesicht ab. Das ist ihre Probe. Und seine Probe. Aber sie hat ihre bereits bestanden, weil sie jetzt hier ist   – so war es schon immer, sie war die, die den ersten Schritt machte   – und weil sie jetzt den Kopf aus dem Fenster steckt und ruft: »Komm schon, Jacko! Jetzt oder nie. Schnell! Spring rein!«
    Aber sie fährt nicht durch das Tor zur Jebb Farm. Sie bleibt nicht einmal davor stehen. Und Jack wird nie erfahren, dass er eine Rolle in der nicht gespielten Szene hatte. Sie denkt an ihren Vater, der in seinem beduselten Zustand vielleicht immer noch nichts von ihrer Flucht bemerkt hat. Wie kann sie das tun? So handeln, dass ihn innerhalb von drei Tagen die beiden einzigen Frauen in seinem Leben verlassen   – und ihm noch dazu seinen Land Rover gestohlen haben. Sie denkt an ihren verlassenen Vater, der, wenn er sie die Westcott-Zufahrt entlangkommen hört, halb trunken, wie er ist, bestimmt denkt, dass seine Frau zurückkommt. Zurückkommt! Allie und Ellie und Jimmy   – alle wieder zusammen auf der Westcott Farm.
    Sie fährt die Marleston Road entlang. Hinter der Kurve bei der Jebb Farm kommt ein gerades Stück, aber ihr Geschwindigkeitsrausch ist verflogen. Jedenfalls bremst sie ab, als sie sich dem Tor zur Westcott Farm nähert. Vor sich sieht sie den viereckigen Turm der Kirche in Marleston. Sie stößt einen seltsamen, schmerzlichen Schrei aus (der gleiche Schrei wie heute, ganz genau der gleiche) und fährt sich mit dem Unterarm über das feuchte Gesicht. Sie hält an, steigt aus und schließt gehorsam das Tor hinter sich   – nachdem sie es vorhin beim Wegfahren voller Trotz hat offen stehen lassen. Sie hört das vertraute Schnappen.
    Die Hecken beiderseits umfangen sie, der goldene Sonnenschein spottet ihrer. Sie fährt weiter, in den trockenen Spurrillen, zu ihrem Vater, der, da er ohnehin das Vergessen gesucht hat, nie erfahren wird   – ebenso wenig wie Jack   – was Ellie getan hat. Was wir alles nicht wissen! Sie kommt auf der Westcott Farm an, wo ihre Mutter nicht ist, wo ihr Vater schläft (und, als sie ihn mit einem Becher Tee weckt, nicht geweckt werden will) und wo die Kühe mit ihrem Muhen, Schnauben, Pissen und Scheißen gemolken werden müssen.

6
    Das Land der Farm lag tief, es war steil und schwer zugänglich, aber hübsch anzusehen, mit Feldern wie Flecken, die zu dem bewaldeten Tal hinunter spitz zuliefen oder breit darauf zurollten. Eins ihrer Felder lag auf der Höhe, dort bauten sie gelegentlich Weizen oder Herbstfutter an, der Rest war Weideland, wie bei fast allen Farmen im weiten Umkreis: Schafe oder Milchkühe, und sie hatten immer Milchkühe gehabt   – Kälber wurden an die Schlachtbetriebe verkauft, alles andere waren Milchkühe. Um das mildeste, sanfteste Produkt der Welt zu erhalten, musste man

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