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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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abgebrochen.
     
    Anfangs war sie blind und ziellos umhergefahren, manchmal buchstäblich blind, was an dem herabprasselnden Regen lag und an den mit Tränen gefüllten Augen. Wie hatte Jack das sagen können? Aber andererseits, wie hatte sie sagen können, was
sie
gesagt hatte, und wie konnte sie auch noch danach handeln? Dann war in ihr wieder einmalder Gedanke an ihre Mutter aufgestiegen und immer mächtiger geworden. Shanklin. Nicht Newport. Nicht zur Polizeiwache in Newport. Das war nichts als schreckliches, verrücktes Gerede gewesen. Shanklin. Und jetzt war vielleicht, nach allem, der Zeitpunkt gekommen.
    Hallo, Mum, hier bin ich endlich, und sieh nur, in welchem Zustand. Hast du einen Rat? Was jetzt? Wie weiter?
    Und wenn keine Antwort vernehmbar wäre, konnte sie immerhin sagen: Danke, Mum, auf jeden Fall danke. Ich bin hier, um wenigstens das zu sagen. Danke, dass du mich und Dad damals im Stich gelassen hast. Danke, dass du mich ihm   – und den Kühen   – überlassen hast. Und dem Rinderwahn. Danke, dass du selbst eine so hässliche Kuh warst, obwohl es am Ende doch richtig so war, auch wenn du es nicht mehr erfahren hast. Danke, dass du mir und Jack   – weißt du noch, Jack Luxton?   – diese letzten zehn Jahre ermöglicht hast. Die jetzt, wie es aussieht, zu Ende gehen.
    Und danke, dass du mir dich, sollte es soweit kommen, zum Vorbild gegeben hast.
    Hinten im Wagen liegt aufgerollt einer von den großen Regenschirmen, die sie sich für den Platz extra haben herstellen lassen und die im Shop verkauft wurden. Goldgelbe Segmente im Wechsel mit schwarzen, auf denen das weiße Leuchtturmlogo zu sehen ist   – als Symbol für den verschwundenen Leuchtturm   – und um den Rand herum das Wort LOOKOUT.   Passend zu dem Regenschirm gab es T-Shirts , Baseballmützen und Aufkleber, und alle diese Dinge (wie der Name »Lookout« selbst) waren ihre Idee gewesen.
    Der Schirm war während Jacks Reise, wie ihr plötzlich bewusst wurde, im Auto gewesen. Sie hoffte, dass es nicht geregnet hatte. Wie dumm hätte er ausgesehen, mit diesem Schirm bei einer Beerdigung. Von der Militärparade ganz zu schweigen. Doch als sie selbst noch Minuten zuvor durch den strömenden Regen gefahren war, hatte sie sich unter ebendiesem, vom Wind hin und her gezerrten Lookout-Regenschirm am Grab ihrer Mutter stehen sehen.
    Hallo, Mum. Ist das ein Wetter, was?
    Und wie dumm
sie
ausgesehen hätte. Und was für eine jämmerliche Unternehmung das gewesen wäre. Sie, auf dem Weg über diesen traurigen Friedhof, durch Pfützen und über aufgeweichten Boden. In
diesen
Schuhen. Nur um ein kleines, regennasses Marmorquadrat zu finden, während der Wohnwagenpark-Regenschirm sie in die Lüfte zu heben versuchte. Du liebe Güte.
    Und was den Rat anging, das Vorbild, musste sie sich dafür wirklich, die Ohren gespitzt, über das Grab ihrer Mutter beugen? Es war doch ohnehin in ihrem Gedächtnis gespeichert, wie eine Formel für den Notfall, falls schlechte Zeiten auf sie zukamen. Sie konnte die vergessen geglaubte Stimme ihrer Mutter hören. Hau ab, Ellie, hau einfach ab, so wie ich damals. Schlag dich frei. Solange du das Auto hast, solange du es kannst. Nur mit dem, was du anhast, und dem, was du in der Handtasche hast. Jetzt oder nie. Schlag dich frei.
    Kurz vor Ventnor hatte sie mit einem kleinen unvermittelten Aufschrei gewendet und war die Küstenstraße zurückgefahren, mitten in das Unwetter hinein, bis sie fünfzig Meter vor Holn Head   – an einer durchweichtenBöschung, neben einer vom Wind geschüttelten Hecke vor einem Acker   – stehenbleiben musste.
    Jeder hat seine Grenzen, denkt Ellie, und ihre Mutter musste an ihre gelangt sein, dass sie ihren Mann und ihre Tochter, die gerade sechzehn geworden war, verlassen hatte   – auch wenn es einen geheimnisvollen Mann im Hintergrund gab. Und ihre eigenen Grenzen mussten weiter gesteckt sein als die ihrer Mutter   – sie hatte allerdings auch keinen geheimnisvollen Mann, sie hatte Jack   –, dass sie es weitere zwölf Jahre mit ihrem Vater ausgehalten hatte. Ausgehalten, immerhin, bis zum bitteren Ende. Sie war sogar an seiner Seite gewesen, hatte seine Hand gehalten und gestreichelt, im Krankenhaus von Barnstaple, wenige Stunden bevor er starb. Und sie wäre auch in seiner Todesstunde bei ihm gewesen, hätte sie gewusst, wann es soweit war, und wäre es nicht um zwei Uhr mitten in der Nacht gewesen.
    Wie hatte Jack nur sagen können, was er gesagt hatte?
    Jeder hat

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