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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Und dann hatte Major Richards eine Stellungnahme vorgeschlagen   – sie für ihn formuliert. Jack hatte den Eindruck, dass Major Richards die Stellungnahme schon fertig im Kopf hatte. Ein bisschen so wie damals, als er die Karte an Ellie geschrieben hatte.
    An dem Punkt hätte Major Richards die Fotos aus seiner braunen Mappe hervorholen können, aber da er sah, dass Jack am ganzen Körper zu zittern begann, ließ er es und sagte lediglich, dass sie, wenn die Nachricht in der Zeitung erschiene, auf Fotos vorbereitet sein sollten.
    Das Foto von Tom   – Corporal Luxton   – zeigte einen Mann, der ein eng anliegendes Barett mit Abzeichen trug und ein Tarnhemd, dessen Ärmel ordentlich bis zum Ellbogen aufgerollt waren. Die Arme waren dick, ebenso sein Gesicht. Der Ausdruck war   – ausdruckslos. Es war kein Anflug eines Lächelns zu sehen, kein Anflug von irgendetwas. Man hätte nicht sagen können: Dieser Mann könnte mein Freund sein, oder, andersherum, mein Feind. Aber man hätte sagen können, dass es gut wäre, diesen Mann in einem Kampf auf seiner Seite zu wissen. Vielleicht hätte man das Wort »verlässlich« benutzt. Aber mit Sicherheit war der Mann auf dem Foto nicht klein.
    Jack hatte das Foto angesehen und   – natürlich   – den Mann erkannt, den er da sah. Und doch schien ihm tief in seinem Inneren die Frage angemessen: Kenne ich diesen Mann? Kann dieser Mann wirklich mein Bruder sein? Er wollte in dem Gesicht einen Hinweis darauf sehen, dass Tom in dem Moment, als das Foto gemacht wurde, gewusst hatte, dass sein Bruder es eines Tages ansehen würde.
    Unter den vielen seltsamen Gefühlen, die er seit Eintreffen des Briefes gehabt hatte, war auch das Gefühl, dass
er
jetzt der kleine Bruder war. So groß er auch war, er kam sich klein vor. Und das passte jetzt zu dem kleinen, kompakten Knoten der Angst in seinem Magen. Er kam sich einfach klein vor. Und als Ellie das Wort benutzte, hatte er gedacht, sie könnte es ebenso gut auf ihn anwenden.
    Kenne ich diesen Mann? Aber genau dasselbe Gefühl, merkte er jetzt, hatte er gegenüber Ellie gehabt, als sie verlangte, da rausgelassen zu werden. Kenne ich dieseFrau? Diese unnachgiebige Frau. Irgendwie hatte Ellie eine Spur von dem, was der Mann auf dem Foto hatte. Dem Mann wollte man nicht in die Quere kommen. Er könnte einen erschießen, ohne erst lange zu fragen. Ähnlich war es mit Ellie   – wenn sie in dieser Sache so unnachgiebig sein konnte, dann war es schwer abzuschätzen, was sie sonst noch tun würde. Oder   – dachte er später   – vielleicht schon getan hatte.
    Die Worte, die er am Ende zu Ellie sprach, hatten nicht wie seine Worte geklungen. Es war ihm unvorstellbar gewesen, dass er je diese Worte sagen würde oder zu sagen brauchte. Vorher hatte er tief eingeatmet.
    »Ich frage dich, Ellie, ob du mit mir zu der Beerdigung meines Bruders kommst. Ob du bei mir bist, wenn ich seinen Sarg in Empfang nehme.«
    Als er diese Worte sagte, war er sich ein bisschen so vorgekommen wie manchmal auf dem Platz, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen und er eingreifen und   – meistens mit erstaunlicher Wirkung   – die Dinge regeln musste. Weshalb war er sich dann so klein vorgekommen, als er sie fragte?
    »Und ich sage dir«, hatte Ellie gesagt, »dass ich das nicht kann.«
    Sie hatten sich einen Moment lang angestarrt.
    »Also gut, Ell«, hatte er gesagt. »Wenn es so ist. Dann fahre ich allein.«

15
    Also war Jack vor drei Tagen allein losgefahren, in dem dunkelblauen Cherokee, mit dem Ellie jetzt unterwegs ist.
    Es war noch nicht halb sieben. Und dunkel. Aber er war schon seit fünf Uhr wach gewesen und hatte auf die Leuchtziffern seines gestellten Weckers gestarrt. Aus Angst, neben vielen anderen Ängsten, zu spät zu kommen, hatte er sich für einen vielleicht übertrieben frühen Start entschieden. Außerdem war in ihm eine seltsame Stimmung der Heimlichtuerei aufgekommen. Er hatte sich leise davongestohlen, in der Hand eine kleine Übernachtungstasche und seinen schwarzen Parka (wenigstens hatte er die richtige Farbe   – wann hatte Jack Luxton schon Verwendung für einen vernünftigen Wollmantel?)
    Ellie war nicht mit zur Tür gekommen, um ihn zu verabschieden. Sie hatte sich nicht einmal geregt oder auch nur ein Wort gemurmelt, als er sich aus dem Schlafzimmer schlich, aus unerfindlichen Gründen bemüht, kein Geräusch zu machen, wo er doch auch laut hätte herumpoltern können. Aber er hatte nicht geglaubt, dass sie schlief.

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