Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
Vom Netzwerk:
Drei in Union Jacks gehüllte Kisten, die auf sechs Schultern ruhten und völlig austauschbar wirkten. Das war verwirrend und dabei unerwartet tröstlich. Jeder Sarg wurde mit der gleichen, unterschiedslosen vollen Aufmerksamkeit bedacht, als wäre in jeder Kiste ein bisschen von jedem der drei Männer.
    Nur dass Toms Sarg sich insofern unterschied, wie Jack jetzt bewusst wurde, als er der letzte war. Es gab danach nichts mehr, worauf die Anwesenden die auf sie einstürzenden Gefühle richten konnten. Es war für alle die letzte Möglichkeit, ein Ziel dafür zu finden. Und es war der eigentliche Grund, warum Jack hier war.
    Wieder ertönte das Signalhorn, diesmal für Toms Sarg. Es war ein erkennbarer Ruf, aber Jack fiel der Name dafür nicht ein: Reveille. Als er ertönte, entfuhr einem zweiten Wesen, das, wie ihm schien, in ihm steckte, ein kleiner Schrei. Er hoffte, dass niemand von denen, die vor ihm standen, sich jetzt umdrehen und ihn wohlmeinend und mitleidvoll ansehen würde. Aber das tat niemand. Sie sahen zu Tom hinüber. Ihre Gedanken waren für ihn bei Tom.
    Wieder wurde die Trommel geschlagen. In den Minuten danach schien beinahe jeder Augenblick, den er je mit Tom verbracht hatte und an den er sich erinnern konnte, durch ihn hindurchzuströmen, in einer Weise, wie er es nicht vorhergesehen hatte und auch nicht gewollt oder gar gewünscht hätte. Aber ihm wurden auch all die Zeiten bewusst, die sie nicht zusammen verbrachthatten. Er dachte an die Briefe, die er Tom unter großen Mühen geschrieben hatte, und an die, die er nicht geschrieben hatte. Und an die Briefe, die er nie erhalten hatte. Er dachte an das, was zwischen ihnen geschehen und auch nicht geschehen war, und das jetzt, vielleicht, nicht mehr wichtig war. An das, was Tom nicht gewusst hatte, und das, was er selbst nicht gewusst hatte. Er hatte Wohnwagen zu seinem Beruf gemacht, Tom war in die Schlacht gezogen.
    Er dachte an das letzte Mal, als er so dagestanden hatte   – natürlich war es nicht so wie jetzt   –, bei der Beerdigung seines eigenen Vaters, und Tom war nicht dabei gewesen. Das ganze Dorf konnte sehen, dass Tom nicht da war. Aber Tom, das wusste inzwischen jeder, war in der Armee. Er dachte daran, dass er sehr bald wieder dort stehen würde und alles noch einmal durchmachen müsste. Er dachte an die Male des Remembrance Day auf dem Kirchhof von Marleston. Die grauen und gelben Flechten auf dem Denkmal, das Rascheln der Blätter. Er dachte daran, dass er, wenn er nach dieser Zeremonie eine Rede halten müsste, sagen würde, wie Tom, sein kleiner Bruder Tom, schon immer Soldat hatte werden wollen, seit dem Moment nämlich, da er die Geschichte seiner beiden Großonkel erfahren hatte, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren und von denen einer mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet worden war. Oder ähnlichen Unsinn. Das würde er sagen. Doch Gott sei Dank musste er keine Rede halten. Wie sollte er, Jack, je eine Rede halten? Wie konnte überhaupt jemand eine Rede halten? Aber die Medaille hatte er mitgebracht. Warum, wusste er nicht zu sagen. Bei seiner Rede könnte er siezur Veranschaulichung hochhalten. Er berührte sie jetzt in seiner Brusttasche.
    Er dachte an die Bar im Crown. Jimmy Merrick im Anzug. Er dachte oder versuchte, wie er es schon oft versucht hatte, an Toms letzte Minuten zu denken, aber er konnte nicht daran denken, sie sich nicht vorstellen, seine Gedanken scheuten davor zurück. Als der Sarg vor ihm vorbeigetragen wurde und er ihn berühren wollte und einer der sechs barhäuptigen Soldaten oder wenn möglich alle sechs sein wollte, dachte er: Was würde seine Mum jetzt denken   – seine und Toms Mum   –, wenn sie sie hier sehen könnte?
    Als alle drei Särge in die Leichenwagen verbracht worden waren, blieb eine angespannte Stille. Es war, begriff Jack, Teil der festgelegten Zeremonie (wie die Zeremonie am Remembrance Day), aber gleichzeitig war es eine natürliche, unvermeidliche Reaktion. Wie konnte dies hier einfach zu Ende sein? Nachdem die Särge abgesetzt worden waren, hatten sich die Sargträger jeweils in Gruppen aus zwei Säulen, mit dem jeweiligen Offizier davor, jenseits der Leichenwagen und schräg dazu aufgestellt, als wären sie eine dritte, flankierende Zuschauergruppe. Dann hatte eine weitere Abteilung von Soldaten mit geschulterten Gewehren vor den Leichenwagen Aufstellung genommen.
    Mittlerweile hatte Jack bemerkt, dass die Fahrer der drei Leichenwagen nicht allein waren (natürlich

Weitere Kostenlose Bücher