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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
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Ausflug genauso wenig wie von dem damals, als sie mit sechzehn den Land Rover genommen hatte. Und zum Glück war es nicht derselbe Land Rover. Sie hatte die Fähre nach Fishbourne genommen und war aufs Sonnendeck gegangen, als wäre es eine Vergnügungsreise.
    Ihr Leben auf der Isle of Wight. Wie schön es hier war: ein eigenständiges, getrenntes Land, mit einem nur schmalen Streifen Meer dazwischen, aber zum Glück vom Land ihrer Vergangenheit abgeschnitten. Nicht gerade ihre »Insel der Freude«. Es war nicht Tahiti. Schongar nicht jetzt. Oder Santa Lucia (das war später). Trotzdem, es war da und ihr Lebensinhalt   – das Geschäft mit der Freizeit. Und es war ihr Eigenes geworden, nicht nur der »Lookout Wohnwagenpark«, sondern »Ellies und Jacks Wohnwagenpark«. Früher hatte er Alice und Tony gehört   – bei »Ally-und-Tony«. Jetzt war es bei »Ellie-und-Jack«.
    Sie hatte neben ihm gestanden, in einem strohgelben Kleid, im Standesamt von Newport, und es hatte ihr nichts ausgemacht, einen anderen Namen anzunehmen. Es schien ihr ein guter Name.
Luck
-ston. Später, vor ihrer Haustür   – es war ein milder Nachmittag im Oktober, und die Wohnwagen vor ihnen sahen aus, als wären sie für eine Hochzeit aufgestellt worden   – sagte sie: »Nun mach schon, noch eine Gelegenheit kriegst du nicht.« Und er hatte es getan, als hätte er es die ganze Zeit geplant. Mein Gott, er hatte sie hochgehoben, als wäre sie so leicht wie Stroh.
    Er hatte die Trauer um die Jebb Farm verwunden, hatte gar nicht so lange dazu gebraucht, und angefangen, glücklich auszusehen. Farmer Jack. Sie hatte sogar gedacht, sie könnte sich damit abfinden, dass sie keinen neuen Menschen in die Welt setzten, angesichts
seiner
Verwandlung zu einem neuen Menschen. Und war das nicht ihr Werk? Außerdem, es war ja nicht völlig abwegig, dass es sowohl das eine als auch das andere geben konnte.
    War es also ein Wunder, dass sie ganz geplättet, aber auch froh   – ja, froh   – gewesen war, als der Brief kam?
     
    »Lass mich da raus, Jack.«
    Sie hätte mitfahren müssen, zurück in die schrecklicheVergangenheit. Einen Moment lang sieht sie vor sich nicht den Novemberregen, der auf der Isle of Wight niedergeht, sondern den sanft böigen, schleierartigen Sommerregen über den Hügeln von Devon, als sie am Morgen nachdem ihr Vater gestorben war, nach Barnstaple fuhr. Sie hatte Jack von einer Telefonzelle im Krankenhaus angerufen und ihn benachrichtigt, ohne Tränen und mit kaum einem Zittern in der Stimme. Sie wollte ihm zu verstehen geben, dass sie vernünftig und gefasst war   – während er noch unter dem Eindruck des Todes seines eigenen Vaters stand. Es war vorbei, man hatte damit gerechnet (und damit gehörten auch die Jahre seit ihrem sechzehnten Lebensjahr der Vergangenheit an, ja, auch das). In Kürze könnten sie anfangen, über ihr eigenes Leben nachzudenken.
    »Nein, ist schon in Ordnung, du brauchst nicht zu kommen.«
    Und er hatte die Kühe in zwei Schichten gemolken.
    Und vor zwei Tagen hatte er sie bei sich gebraucht.
    Sie hätte mitfahren sollen, hätte bei ihm sein sollen, auch ein bisschen weinen sollen. Jetzt weinte sie. Aber sie hatte es einfach nicht fertiggebracht. Auf einer grauen Piste zu stehen und zu sehen, wie alles zurückkam, in einem Paket, eingewickelt in eine Fahne, aus dem Irak, ihr altes, zurückgelassenes Leben. Dann auf dem Friedhof da. An Toms Grab. Am Grab ihres Vaters.
    Sie hatte es nicht fertiggebracht. Genauso wenig, so schien es, wie sie es fertigbrachte, am Grab ihrer Mutter zu stehen. Sie brachte es nicht fertig, auch wenn Jack es tun musste. Sie verstand, dass es für ihn keine andere Möglichkeit gab.
    Sie hatte gehört, wie er aufbrach, vor zwei Tagen. Schon jetzt kommt es ihr wie zwei Wochen vor. Hatte gehört, wie er unten in der Küche herumging, hatte die Haustür gehört, seine Schritte auf dem Asphalt draußen. Den Motor des Wagens. In dem Moment hatte sie gedacht: Der Arme, der Arme, dass er diese Reise machen muss. Die Geräusche hatten nicht wütend geklungen, keine Tür wurde zugeschlagen. Fast war es, als hätte er versucht, sie nicht zu wecken.
    Wie hatte sie ihn gehen lassen können, ohne ihn zu verabschieden, ohne an der Tür zu stehen, ohne ihn zu küssen oder zu umarmen oder zu sagen: »Ich bin in Gedanken bei dir«? Mein armer Jack. Mein armer einziger letzter Luxton. Aber wie hatte sie das, was sie gesagt und getan hatte, sagen und tun können, wenn sie doch einfach mit

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