Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Swift
Vom Netzwerk:
also getan, sodass fortan niemand den Anstand besitzen musste, es für ihn zu tun. Er hatte das, was der Anstand verlangte, selbst getan. Tom hatte die Briefe angestarrt. Sie zu lesen, war ein bisschen so, als wollte er Jacks Gesicht lesen, aber das würde er auch nicht mehr tun müssen. Er steckte die Briefe weg, er sprach nicht mit seinem Vorgesetzten. Später ergab sich eine Gelegenheit, die Briefe privat zu verbrennen. Im Schlafsaal war ein altmodischer Kohleofen mit einem Deckel. Einfach. Ein kleines Feuer, verglichen mit den Bergen von Rindern, die in Flammen aufgingen. Und eine kleine Angelegenheit, wenn er es recht bedachte, verglichen mitmanchem, was auf Soldaten zukam. Bosnien. Er sah die brennenden Rinder im Fernsehen, sechs Jahre später, im Frühling 2001.   Und gar nicht so lange danach waren zwei Flugzeuge in die beiden Türme geflogen   – auch das Fernsehbilder, an die man sich erinnern würde   –, was dem Akt des Selbstmords eine vollkommen neue Bedeutung verlieh und zu einer Reihe von Konsequenzen führte, auch für britische Soldaten, in deren Licht ein bisschen Rinderwahn kaum der Rede wert schien.
     
    Er hatte nur weggewollt, hatte etwas komplett anderes gewollt. Keine edleren Gründe. Er hatte nie jemandem erzählt, dass sein Großonkel die Ehrenmedaille erhalten hatte. (Posthum.) Als er in der Nacht aufgebrochen war, mit seinem Rucksack, und am Kriegerdenkmal vorbeigekommen war, hatte er sich nicht danach umgewandt. Er war sich nicht tapfer vorgekommen und glaubte auch nicht, dass er etwas tat, was besondere Entschlusskraft erforderte.
    Sein Soldatenleben fing damit an, dass er weggelaufen war. Eine ganz gewöhnliche Geschichte. Die Hälfte der B Company hatte das auf die eine oder andere Weise getan. Welche Alternativen gab es denn? Sie hatten das Problem bei der Armee abgegeben. Nehmt mich auf, bitte, gebt mir ein Leben, bitte, komplett mit allem. Bei manchen konnte man ziemlich genau sehen, dass sie, wenn es nicht die Armee gewesen wäre, im Gefängnis gelandet wären, früher oder später. Man konnte sich manche Gesichter (und jetzt, als Corporal, sagte er ihnen das hin und wieder) hinter Gitter vorstellen.
    Das hätte auch auf ihn zutreffen können, und vielleichtwäre es kein geringfügiges Vergehen gewesen. Aber all das hatte sich jetzt geregelt. Er starrte auf die Briefe.
     
    Aber an die Kühe dachte er immer wieder. Sie verfolgten ihn und halfen ihm, gaben ihm einen Maßstab. Wenn er jetzt schlimme Bilder von Menschen aus seinem Kopf vertreiben wollte, half es ihm, stattdessen Bilder von Kühen herbeizurufen. Er konnte sich noch gut an das feuchte Gerangel im Melkstall, an den Geruch von Jod und Eutern erinnern. Konnte sich an die tägliche Mühe, den Kühen Milch abzunehmen, erinnern, und an den Gedanken, der ihm manchmal dabei kam, dass es im Grunde der gleiche Vorgang war (und wohl kaum die Aufgabe eines Mannes), durch den Menschenbabys gesäugt und fürs Leben gestärkt wurden, durch den er selbst einmal gesäugt und gestärkt worden war   – auch wenn seine Ankunft spät und (so hieß es) schwierig gewesen war. Und es war erstaunlich, dass auch die Erwachsenenwelt diesen weißen, weichlichen Babysaft brauchte, eimerweise, Tankfüllungen davon.
    Der Gedanke kam ihm besonders nach Veras Tod, und er fragte sich, ob Jack ihn auch hatte, in der Box nebenan. Ihre Mum war gestorben, aber diese verdammten Kühe hier mussten weiterhin kalben und Milch geben. Trotzdem war der Melkstall in dieser Zeit der beste Ort überhaupt.
    Was waren das für Gedanken für einen zukünftigen Soldaten? Was für eine Ausbildung war das Melken? Oft genug war es ein Kuhleben, eine Kuhstall-Existenz. Die anderen waren größtenteils hartgesottene junge Städter, für sie war er ein Weichling vom Lande, ein Bauerntrottel.Aber es gab auch solche, die außen hart und innen weich wie Brei waren, auf die konnte man verzichten. Dann gab es welche, die äußerlich weich wirkten (obwohl das heutzutage eher selten war) und darunter hart waren, und er wusste inzwischen, dass er zu der zweiten Sorte zählte. Hin und wieder sahen sie etwas davon und wussten, dass es keinen Zweck hatte, sich mit ihm anzulegen   – einer der Gründe, warum er zum Corporal befördert worden war und bald zum Sergeanten befördert werden würde.
    Wenn sie erst mal draußen im Einsatz waren, hatten die meisten das mit dem harten und weichen Inneren begriffen. Sie wussten, dass ihre Mütter nicht mehr für sie da waren. Sie mussten

Weitere Kostenlose Bücher