Wahlkampf: Ein Mira-Valensky-Krimi
und Bewegung. Nach dem Kino beschloss ich, von der Innenstadt zu Fuß heimzugehen. Eine halbe Stunde durch Wien. Noch immer hatte es nicht geregnet. Aber immerhin hatte der Verkehr bereits nachgelassen, und ein leiser Wind wehte die Autoabgase davon. Es war ruhig, als ich durch die Straßen mit den hohen alten Häusern schlenderte. Da und dort führte jemand seinen Hund Gassi. Aus einem Fenster drang Technomusik. Autotüren knallten. Ein höchstens zwölfjähriges dunkeläugiges Kind versuchte mir eine meterlange rote Rose zu verkaufen. Ich gab ihm Geld für drei und ließ ihm die Rosen. Sie würden morgen ohnehin verwelkt sein. Wenigstens das Kind sollte heute einen schönen Abend haben.
Schon als ich in die schmale Gasse, in der ich wohnte, einbog, suchte ich in meiner großen Tasche nach dem Schlüssel. Der Fußmarsch hatte mich beruhigt und getröstet. Ich hätte wissen müssen, was mich erwartete, als ich mich auf die Wahlkampfberichterstattung einließ. Entweder Kaffeeservicemuster, Werbeauftritte und päpstlicher Segen oder … Ich hatte mich – warum auch immer – für das Oder entschieden. Also galt es, sich eine dicke Haut zuzulegen. Ich hatte Droch nichts vorab vom Drohbrief erzählt. Droch hielt es schlecht aus, nicht alles zu wissen. Und er hatte sich gerächt. Das war es, mehr nicht.
Die Gasse war menschenleer. Ich seufzte und zog meinen Schlüssel heraus. Ich ging in den großen, offenen Torbogen. Hinter mir klirrte etwas auf dem Boden. Hoffentlich war Gismo nicht ausgerissen. Das hätte noch gefehlt.
Ich drehte mich um. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb mir der Mund offen, dann knallte ein Faustschlag gegen mein Jochbein. Ich riss die Hände hoch. Ich muss mich wehren, dachte ich, wehren. Aber alles ging so schnell. Ich packte den Mann am Handgelenk und bemerkte, dass er nicht allein war. Sein Komplize hieb mir genau in den Magen. Ich wunderte mich, dass das gar nicht so weh tat wie der erste Schlag. Nummer eins hatte sich losgerissen und traf mich mit der Faust am Ohr. Ich konnte nichts mehr hören, rund um mich klingelte es schrill, und ich hatte auf einmal einen roten Vorhang vor den Augen. Blut? Ohnmacht? Ich ließ meine Tasche fallen und schlug wild um mich. Zwei verschwommene Gestalten. Ein merkwürdig dumpfes Geräusch und dann ein Stöhnen. Ich musste den einen getroffen haben. Meine Fingerknöchel taten mir weh. Dann wurden mir die Beine weggetreten. Ich schlug mit dem Kinn hart auf dem Asphalt auf. Blut. Ich sah Beine. Liegend trat ich dagegen. Einer fiel um. War das ein Zahn in meinem Mund? Ich musste aufstehen, sie durften mich nicht weiter in den Bauch treten. Nein. Ich versuchte hochzukommen, aber mein Magen zog sich zusammen. Ich krümmte mich. Ich lag da und tastete den Boden ab. Eine Flüssigkeit. Blut? Öl? Allmählich wurde mir bewusst, dass keine Schläge mehr kamen. Ich war allein. Alles war ruhig. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Ich lag in der Einfahrt, und Wien schlief. Ich spuckte und versuchte mir den Mund abzuwischen. Ich hatte den Geschmack von Straßenstaub, altem Öl und Taubendreck auf der Zunge. Millimeter für Millimeter bewegte ich mich zur Hauswand hin. Vielleicht gelang es mir, an die Wand gestützt aufzustehen. In meinem Ohr summte es – aber das machte die Stille rundum nur noch unerträglicher. Ich wagte es nicht, sie zu durchbrechen. Ich wusste auch nicht, ob ich hätte schreien können. Schon ein Krächzen hätte mir den Rest gegeben. Ich ließ den Mund zu und schob mich zur Wand. An die Wand gelehnt, redete ich mir gut zu: Ruhig durchatmen. Aber es ging nicht. Der Bauch und der Magen taten zu weh. Innere Verletzungen? Rippenbrüche? Am Ohr spürte ich Blut. Nicht viel, es schien schon einzudicken. Das Jochbein pochte. War es gebrochen? Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Als ich es schließlich geschafft hatte, mich hochzuziehen und mich Stufe für Stufe die drei Stockwerke nach oben zu meiner Wohnung zu schleppen, war es Mitternacht. Seit dem Überfall war erst eine halbe Stunde vergangen. Vor der Wohnungstür fiel mir auf, dass ich den Schlüssel die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Ich schloss auf und wollte mich gleich zu Boden sinken lassen. Aber dumpf warnte mich etwas, dass das Aufstehen dann noch mühsamer werden könnte als vorhin auf der Straße.
Ich tastete mich, ohne Licht zu machen, in die Küche. Gewohnheit. Der erste Weg in die Küche. Was sollte ich in der Küche? Ich musste zum Telefon oder besser zuerst ins
Weitere Kostenlose Bücher