Wahn - Duma Key
alter Dinge zurück, die er unbeholfen an seine Brust gepresst hielt. Später würde er anfangen, Nan Meldas Einkaufskorb zu benutzen, in den er ein Bleigewicht legte, damit er schneller versank. Noch später folgte ein Zeitungsfoto, auf dem ein Großteil des geborgenen Trödels - des »Schatzes« - vor dem lächelnden John Eastlake und seiner begabten, eifrig konzentrierten Tochter lag. Aber auf diesem Foto ist keine Porzellanpuppe zu sehen.
Weil die Puppe etwas Besonderes war. Sie gehörte Libbit. Sie war ihr fairer Bergelohn.
War es das Puppending, das Tessie und Lo-Lo in den Tod trieb? Das den Big Boy erschuf? Wie viel genau hatte Elizabeth inzwischen damit zu tun? Wer war hier der Künstler, wer die leere Fläche, auf die gezeichnet wurde?
Einige Fragen, auf die ich niemals befriedigende Antworten gefunden habe, aber ich habe selbst genug gezeichnet, um zu wissen, dass es auf dem Kunstsektor völlig in Ordnung ist, Nietzsche zu paraphrasieren: Bewahre deine Konzentration, dann bewahrt sie irgendwann dich. Manchmal fast gegen deinen Willen.
11
Blick von Duma Key
I Früh am nächsten Morgen standen Wireman und ich bis fast zu den Knien im Golf, der kalt genug war, um ein echter Augenöffner zu sein. Er war hineingegangen, und ich war ihm ohne Frage gefolgt. Ohne ein einziges Wort. Beide hielten wir eine Kaffeetasse in der Hand. Er trug Shorts; ich hatte mir gerade noch die Zeit genommen, meine Hosenbeine bis zu den Knien hochzurollen. Hinter uns am Ende des Holzstegs saß Elizabeth zusammengesunken in ihrem Rollstuhl, starrte grimmig auf den Golf hinaus und sabberte sich übers Kinn. Der größte Teil ihres Frühstücks lag noch vor ihr. Sie hatte ein wenig davon gegessen und den Rest durcheinandergeworfen. Ihr offenes Haar wehte in der warmen Brise aus Süden.
Das Wasser umbrandete uns. Sobald ich mich daran gewöhnt hatte, gefiel mir, wie seidenweich sich dieser Wechsel anfühlte: erst die Entlastung, als hätte ich auf magische Weise vier oder fünf Kilo abgenommen, dann das Ablaufen, das den Sand zwischen meinen Zehen in kitzelnden kleinen Strudeln heraussaugte. Sechzig bis siebzig Meter von uns entfernt zogen zwei fette Pelikane eine Linie über den Morgenhimmel. Dann legten sie die Flügel an und stürzten wie Steine ins Meer. Einer kam ohne Beute herauf, aber der andere hatte sein Frühstück im Schnabel. Der kleine Fisch wurde verschlungen, noch während der Pelikan wieder startete. Es war ein altes Ballett, aber deswegen nicht weniger angenehm zu beobachten. Weiter südlich und landeinwärts, wo der grüne Inseldschungel begann, rief ein anderer Vogel immer wieder: »Oh-oh! Oh-oh!«
Wireman wandte sich mir zu. Er sah nicht aus wie fünfundzwanzig, aber doch weitaus jünger als jemals, seit wir uns kennengelernt hatten. Sein linkes Auge war gar nicht mehr gerötet und hatte seinen zusammenhanglosen Ich-sehe-in-meine-Richtung-Ausdruck verloren. Ich bezweifelte nicht, dass er mich sah; dass er mich sehr gut sah.
»Wenn ich je irgendetwas für dich tun kann«, sagte er. »Mein ganzes Leben lang. Du rufst an, ich komme. Du verlangst etwas, ich tu’s. Das ist ein Blankoscheck. Sind wir uns darüber im Klaren?«
»Ja«, sagte ich. Mir war auch etwas anderes klar: Wenn einem jemand einen Blankoscheck anbietet, darf man ihn um Himmels willen niemals einlösen. Das war nichts, was ich mir überlegt hatte. Manchmal umgeht Verständnis das Gehirn und kommt direkt aus dem Herzen.
»Also gut«, sagte er. »Mehr werde ich dazu nicht sagen.«
Ich hörte ein Schnarchen. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah, dass Elizabeth’ Kinn auf ihre Brust gesunken war. In einer zur Faust geballten Hand hielt sie ein Stück Toast. Ihre weißen Haare umwehten ihren Kopf.
»Sie sieht dünner aus«, sagte ich.
»Sie hat seit Neujahr fast zehn Kilo abgenommen. Ich gebe ihr jeden Tag einen dieser Maxi-Shakes - Ensure, so heißt das Zeug -, aber sie trinkt sie nicht immer. Und was ist mit dir? Siehst du nur so aus, weil du überarbeitet bist?«
»Wie sehe ich aus?«
»Als ob der Hund von Baskerville dir vor Kurzem die linke Arschbacke abgebissen hätte. Falls das an der Überarbeitung liegt, solltest du vielleicht mal eine kleine Pause machen.« Er zuckte mit den Schultern. »›Das ist unsere Meinung, wir hören gern Ihre‹, wie sie auf Channel 6 sagen.«
Ich blieb stehen, wo ich war, spürte das Heben und Senken der Wellen und überlegte, was ich Wireman erzählen konnte. Wie viel ich Wireman erzählen durfte . Die
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