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Wahn - Duma Key

Titel: Wahn - Duma Key Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Wiremans Taschentuch in der anderen. Ihre Augen waren feucht.
    »Sie haben mir Gedichte vorgelesen, weil Wireman nicht konnte. Erinnern Sie sich daran?«
    »Ja, Ma’am.« Natürlich erinnerte ich mich daran. Das waren bezaubernde Interludien gewesen.
    »Würde ich ›Sprich, Erinnerung, sprich‹ zu Ihnen sagen, würden Sie an den Mann denken - der Name fällt mir gerade nicht ein -, der Lolita geschrieben hat, oder?«
    Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte, aber ich nickte trotzdem.
    »Aber es gibt auch ein Gedicht. Ich weiß nicht mehr, wer es geschrieben hat, aber es beginnt mit den Worten: ›Sprich, Erinnerung, auf dass ich nicht vergesse den Geschmack der Rosen noch den Klang der in den Wind verstreuten Asche; dass ich nur einmal noch kosten darf vom grünen Becher des Meeres.‹<
    Rührt Sie das an? Ja, ich sehe, dass es das tut.«
    Die Hand mit der Zigarettenspitze öffnete sich. Dann wurde sie ausgestreckt und strich mir übers Haar. In dem Moment (und seither wiederholte Male) kam mir der Gedanke, dass ich für meinen ganzen Kampf, um zu überleben und wieder annähernd wie früher zu werden, allein durch die Berührung dieser Hand einer alten Frau reichlich belohnt worden bin. Die runzlige Weichheit der Handfläche. Die gebeugte Kraft dieser Finger.
    »Kunst bedeutet Erinnerung, Edgar. Das lässt sich nicht einfacher sagen. Je deutlicher die Erinnerung, desto besser die Kunst. Desto reiner. Diese Bilder … sie brechen mir das Herz und machen es dann wieder heil. Wie froh ich bin, dass sie in Salmon Point gemalt wurden! Unabhängig von allem anderen.« Sie hob die Hand, mit der sie meinen Kopf gestreichelt hatte. »Sagen Sie mir, wie Sie dieses eine nennen.«
    »Sonnenuntergang mit Sophora.«
    »Und diese anderen heißen … wie? Sonnenuntergang mit Schneckenmuschel, Nummer eins bis vier?«
    Ich lächelte. »Nun, eigentlich waren es sechzehn, wenn man die Buntstiftzeichnungen mitrechnet. Ein paar davon sind im Eingangsbereich ausgestellt. Die besten Ölbilder habe ich für diesen Raum ausgewählt. Sie sind surreal, das weiß ich, aber...«
    »Sie sind nicht surreal, sie sind klassisch. Das kann jeder Trottel sehen. Sie enthalten alle vier Elemente: Erde … Luft... Wasser... Feuer...«
    Ich sah Wireman lautlos sagen: Überanstreng sie nicht!
    »Wie wär’s, wenn ich Ihnen rasch die übrigen Bilder zeige und Ihnen dann was Kaltes zu trinken bringe?«, fragte ich sie, und jetzt nickte Wireman und bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Hier drinnen ist es trotz der Klimaanlage ziemlich heiß.«
    »Also gut«, sagte sie. »Ich bin ein bisschen müde. Aber, Edgar?«
    »Ja?«
    »Sparen Sie sich die Schiffsgemälde für zuletzt auf. Anschließend werde ich einen Drink brauchen . Vielleicht im Büro. Nur einen, aber etwas Kräftigeres als Co’-Cola.«
    »Wird gemacht«, sagte ich und quetschte mich noch mal an ihrem Rollstuhl vorbei.
    »Zehn Minuten«, flüsterte Wireman mir ins Ohr. »Auf keinen Fall länger. Sie soll hier raus, bevor Gene Hadlock aufkreuzt. Wenn er sie hier sieht, kriegt er einen Tobsuchtsanfall. Und du weißt, gegen wen er sich richten würde.«
    »Zehn«, sagte ich und schob Elizabeth in den Büfettraum, um ihr die dortigen Gemälde zu zeigen. Die Menge folgte uns weiter. Mary Ire hatte begonnen, sich Notizen zu machen. Ilse schob eine Hand in meine Armbeuge und lächelte mich an. Ich erwiderte ihr Lächeln, hatte aber wieder dieses Gefühl, mich in einem Traum zu befinden. In einem, der jeden Augenblick in einen Albtraum umschlagen kann.
    Elizabeth begeisterte sich für Ich sehe den Mond und den Duma-Road-Zyklus, aber es war die Art und Weise, wie sie die Hände nach Aus Muscheln wachsen Rosen ausstreckte, die mir eine Gänsehaut bescherte. Sie ließ die Arme wieder sinken und sah mich über die Schulter hinweg an. »Das ist das Wesentliche«, sagte sie. »Das Wesentliche an Duma. Der Grund dafür, weshalb alle, die eine Zeit lang dort gelebt haben, die Insel nie wirklich verlassen können. Selbst wenn ihr Kopf ihren Körper fortschickt, bleibt ihr Herz zurück.« Sie widmete sich erneut dem Gemälde. » Aus Muscheln wachsen Rosen. Das ist korrekt.«
    »Danke, Elizabeth.«
    »Nein, Edgar - ich danke Ihnen .«
    Ich sah mich nach Wireman um und stellte fest, dass er sich mit jenem anderen Rechtsanwalt aus meinem anderen Leben unterhielt. Die beiden schienen sich glänzend zu verstehen. Ich konnte nur hoffen, dass Wireman ihn nicht versehentlich Bozie nannte. Dann wandte ich mich

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